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Das getupfte Band
{"Das getupfte Band"}
und andere Detektivgeschichten
{"und andere Detektivgeschichten"}
Ein Roman von Arthur Conan Doyle
{"Ein Roman von Arthur Conan Doyle."}
in Stiefografie Grundschrift
{"in Stiefografie Grundschrift"}
{!§§!}
{"Dies ist ein gemeinfreier Text, aus dem Internet von"}
{"http://sternchenland.com/erzaehlungen-sagen/arthur-conan-doyle/das-getupfte-band"}
{"übertragen in Stiefografie von Andreas Hofer"}
{"Es werden lediglich die Zeichen der Grundschrift verwendet, mit einer Ausnahme: "}
{"Das th-Zeichen "} {!th!} {" wurde von der Stiefo Aufbauschrift II übernommen,"}
{"denn in diesem Text kommen viele englische Namen und Ortschaften vor."}
{"Der Name 'Arthur' beispielsweise wird im diesem Text also so geschrieben: "} {!a r th e r!}
{"Am Satzende steht ein Kreuzchen: "}{!.!}
{"Für ein Komma wird ein etwas grösserer Wortabstand gemacht."}
{"Die anderen Satzzeichen und die Zahlen sind wie in der Langschrift."}
{!§§!}Einleitung
Die Haushälterin hatte eben den Nachmittagstee hereingebracht. Nun zog sie die Vorhänge vor den Fenstern zu und zündete die Stehlampe an, die ein warmes Licht über den gedeckten Tisch warf. Das Feuer im Kamin verbreitete eine angenehme Wärme. Doktor Watson saß in einem bequemen Sessel und las, als sich die Türe öffnete und Sherlock Holmes eintrat. »Das ist heute mal wieder ein Nebel!« sagte er und rieb sich die Hände vor dem Feuer warm. »Ein scheußliches Wetter draußen! Keinen Hund möchte man da hinausjagen!« Dann wandte er sich dem Hausgenossen zu: »Was liest du denn da so interessiert, Doktor?«
Watson legte rasch, fast in leichter Verlegenheit, die Blätter beiseite. Es waren eine Anzahl fortlaufender Nummern des »Telegraph«.
»Ach, nichts weiter«, sagte er in offensichtlichem Bemühen, der Sache keine weitere Bedeutung zuzuschreiben. »Komm, setz dich lieber her und trinke gleich einen heißen Tee, wenn du so ausgefroren bist.«
Damit füllte er ihm eine Tasse, rückte einen Sessel zurecht und bot ihm einen Teller mit belegten Broten an. Kaum hatte Holmes sich gesetzt, so klingelte es. Sie stellten beide zugleich, wie auf Verabredung, ihre Tassen nieder und lauschten.
War es ein Besuch oder ein Ruf? Und wem von ihnen beiden mochte er gelten?
Dr Watson hatte zwar seit seiner Rückkehr aus dem afghanischen Feldzug, an dem er als Militärarzt teilnahm, offiziell noch keine Praxis aufgenommen. Aber es kam doch vor, daß er gelegentlich, etwa bei Unglücksfällen, zur dringenden Hilfeleistung geholt wurde und sie dann selbstverständlich nicht verweigerte.
Die Haushälterin kam herein. »Ein Kind ist überfahren worden, Herr Doktor – –«
»Ich komme«, unterbrach Watson ihren Bericht und stand sofort auf. Ein Mensch in Gefahr – da wurde jede Frage nach Zeit und Wetter gleichgültig für ihn. Er eilte hinaus, und Holmes hörte noch, wie er draußen mit einem Mädchen verhandelte, sich Name und Wohnung sagen ließ, während er alles Nötige zur Hilfeleistung einpackte. Gleich darauf fiel die Haustüre ins Schloß. Frau Hudson kam mit ihrem schweren Schritt die Treppe herauf und verschwand in der Küche.
Es war wieder still geworden im Hause. Nichts war mehr zu hören, als das Aufflackern des Feuers im Kamin. Der Lärm der Straße und der vorbeifahrenden Wagen drang nur gedämpft herauf, wie etwas Fernes, das die Abgeschlossenheit dieses Raumes nicht stören konnte.
Sherlock Holmes hatte seinen Tee getrunken. Nun saß er in behaglicher Entspannung zurückgelehnt in seinem Sessel und blickte gedankenverloren den blauen Wolken seiner Pfeife nach. Da fiel sein Blick auf die Zeitungen, die Watson achtlos liegengelassen hatte und er griff danach. Zuerst blieb sein Blick auf einem Artikel haften, in dem jemand sich weit und breit über die Notwendigkeit frühzeitiger Zahnpflege beim Kleinkind ausließ, dann folgte ein Bericht über den Stand der übertragbaren Krankheiten. Fachsimpelei, die nur Watson angeht, dachte Holmes und war schon im Begriff, den »Telegraph« wieder wegzulegen, als er plötzlich seinen eigenen Namen darin entdeckte. »Aha, Watson scheint mal wieder unter die Schriftsteller gegangen zu sein!« murmelte Holmes vor sich hin. Er überflog einige Spalten, lächelte, legte die Pfeife aus der Hand, setzte sich bequem zurecht, suchte den Anfang und las:
{!§§!}Das getupfte Band
Namen
{" John H. Watson "} John H Watson
{" Sherlock Holmes "} Sherlock Holmes
{" Mrs. Hudson "} Mrs. Hudson
{" Helen Stoner "} Helen Stoner
{" Dr. Grimesby Roylott "} Dr. Grimesby Roylott
{" Mrs. Farintosh "} Mrs. Farintosh
{" Generalmajor Stoner "} Generalmajor Stoner
{" Julia Stoner "} Julia Stoner
{" Honoria Westphail "} Honoria Westphail
{" Percy Armitage "} Percy Armitage
Ortschaften
{" Baker Street "} Baker Street
{" Waterloo Station "} Waterloo Station
{" Surrey "} Surrey
{" Stoke Moran "} Stoke Moran
{" Crown Inn "} Crown Inn
{" Crewe "} Crewe
{" Harrow "} Harrow
{" Crane Water "} Crane Water
Wenn ich meine Aufzeichnungen von den vielen absonderlichen Fällen überblicke, an denen ich während der letzten Jahre das Verfahren meines Freundes Sherlock Holmes studiert habe, so finde ich darunter manche von tragischer, einige auch von komischer Art; viele lassen sich einfach nur als merkwürdig bezeichnen, aber keiner als alltäglich; denn da Holmes sich bei seiner Tätigkeit weit mehr von der Liebe zu seinem Beruf als von materiellem Gewinn bestimmen ließ, so lehnte er seine Mitwirkung stets ab, wenn die Nachforschungen sich nicht auf einen ungewöhnlichen oder geradezu rätselhaften Vorgang richteten. Unter all diesen verschiedenartigen Fällen weiß ich mich jedoch keines zu entsinnen, der eine gleiche Fülle merkwürdiger Züge dargeboten hätte, wie der, welcher in der bekannten Familie der Roylotts von Stoke Moran in Surrey spielte. Dieses Ereignis fiel in die erste Zeit unseres gemeinsamen Junggesellenlebens in der Bakerstraße. Ich würde es vielleicht früher schon veröffentlicht haben, wäre mir nicht Stillschweigen darüber auferlegt gewesen – eine Pflicht, von der mich erst jetzt der Tod der Dame entbunden hat, in deren Interesse jenes Versprechen gegeben worden war. Vielleicht ist es ganz gut, daß der wahre Sachverhalt jetzt ans Licht kommt, denn wie ich hörte, haben sich über den Tod des Dr Grimesby Roylott in weiten Kreisen Gerüchte verbreitet, die jene Ereignisse noch gräßlicher ausmalten, als sie in Wirklichkeit waren.
An einem Aprilmorgen erblickte ich beim Erwachen Holmes vollständig angekleidet an meinem Bett. Er stand sonst gewöhnlich spät auf, und da die Uhr auf dem Kaminsims erst ein Viertel nach sieben zeigte, so blinzelte ich ihn einigermaßen überrascht, vielleicht sogar etwas ärgerlich an, denn ich ließ mich selbst nicht gerne in meinen Gewohnheiten stören.
»Es tut mir sehr leid, daß ich dich wecken muß, Watson,« sagte er, »aber es geht heute morgen keinem im Hause besser. Frau Hudson ist zuerst herausgeklopft worden, sie hat mich aufgeweckt, und jetzt kommt die Reihe an dich.«
»Was gibt es denn? Brennt es?«
»Nein, eine Klientin ist da. Eine junge Dame von auswärts, die mich durchaus sprechen will. Sie soll in großer Aufregung sein. Sie wartet unten im Empfangszimmer. Wenn sich aber eine junge Dame in solcher Morgenfrühe nach London aufmacht und die Leute aus den Federn treibt, so wird sie wohl einen triftigen Grund dafür haben. Einen wirklich interessanten Fall würdest du doch gewiß gern von Anfang an verfolgen. Ich wollte dich deshalb unter allen Umständen wecken, um dich dieser Gelegenheit nicht zu berauben.«
»Das war sehr nett von dir, mein lieber Junge, natürlich möchte ich sie um keinen Preis verpassen.«
Ich kannte keinen größeren Genuß, als Holmes bei den Untersuchungen, die sein Beruf mit sich brachte, Schritt für Schritt zu begleiten und seine kühnen Schlußfolgerungen zu bewundern, die blitzschnell, als entstammten sie höherer Eingebung, und doch stets auf streng logischer Grundlage aufgebaut, Licht in das Dunkel der ihm vorgelegten rätselhaften Fälle brachten. Ich warf mich also rasch in die Kleider und war nach wenigen Minuten so weit, um meinem Freund nach dem Empfangszimmer folgen zu können.
Eine schwarzgekleidete, verschleierte Dame saß am Fenster und erhob sich bei unserem Eintritt.
Holmes stellte sich vor, begrüßte sie freundlich und erklärte ihr, indem er auf mich deutete: »Hier ist mein vertrauter Freund und Kollege Dr Watson, vor dem Sie Ihre Sache ohne Scheu vorbringen können. – Frau Hudson hat ja Feuer angemacht, wie ich sehe, das war vernünftig von ihr. Bitte, setzen Sie sich nur an den Kamin; ich lasse Ihnen gleich eine Tasse heißen Kaffee bringen, Sie zittern ja ordentlich.«
»Aber nicht vor Kälte,« antwortete die Dame mit leiser Stimme, indem sie der Aufforderung Folge leistete.
»Weshalb denn sonst?«
»Vor Angst, Herr Holmes, vor Schrecken.« Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück, und wir sahen nun, daß sie sich tatsächlich in einem Zustand starker Erregung befand; ihr Gesicht war ganz verzerrt und aschfahl, und sie blickte angstvoll um sich wie ein gehetztes Wild. Ihren Zügen und ihrer Figur nach mußte man sie für dreißigjährig halten, allein ihr Haar zeigte bereits Spuren von Grau, und es lag etwas Müdes und Abgezehrtes in ihrer ganzen Erscheinung.
Holmes musterte sie mit seinem alles durchdringenden Blick. »Sie müssen keine Angst haben,« sagte er in beruhigendem Tone, indem er sich über sie beugte. »Wir werden gewiß bald alles in Ordnung bringen. Sie sind heute früh mit der Bahn angekommen, wie ich sehe.«
»Kennen Sie mich denn?«
»Nein, ich bemerke nur die eine Hälfte der Rückfahrkarte, die Sie in Ihrem linken Handschuh stecken haben. Sie müssen früh aufgebrochen sein und hatten dann bis zur Bahn eine tüchtige Fahrt in einem Jagdwagen auf schlechten Wegen zu machen.«
Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens starrte die Fremde meinen Freund an.
»Sie brauchen sich nicht zu verwundern,« fuhr Holmes lächelnd fort. »Ich treibe keine Hellseherei. Aber der linke Ärmel Ihrer Jacke ist an nicht weniger als sieben Stellen mit noch ganz nassem Schmutz bespritzt. Kein anderes Fuhrwerk wirft aber so viel Schmutz auf wie ein Jagdwagen, und am allerschlimmsten ist es vollends, wenn man vorne links neben dem Kutscher sitzt.«
»Das mag sein, wie es will, jedenfalls treffen Sie mit Ihren Schlüssen das Richtige,« versetzte sie. »Ich fuhr vor 6 Uhr daheim fort, brauchte 20 Minuten bis nach Leatherhead und traf mit dem ersten Zuge hier an der Waterloo-Station ein. – Es kann nicht länger so fortgehen, ich halte es nicht mehr aus, ich werde wahnsinnig! Ich habe gar niemand, an den ich mich wenden könnte – niemand; nur ein einziger Mensch nimmt Anteil an mir, aber helfen kann er mir auch nicht. Man hat mir von Ihnen erzählt, Herr Holmes. Eine meiner Bekannten, Frau Farintosh, der Sie einmal in ihrer schrecklichen Bedrängnis Beistand leisteten, hat mir Ihre Adresse gegeben. Ach, meinen Sie nicht, Sie könnten mir vielleicht ebenfalls helfen und die furchtbare Finsternis, die mich umgibt, wenigstens durch einen schwachen Schimmer erhellen? Ich habe freilich jetzt kein Geld, aber in sechs Wochen oder einem Monat, wenn ich verheiratet und im Besitz meines Vermögens bin, sollen Sie mich nicht undankbar finden.«
Holmes entnahm seinem Schreibtisch ein kleines Buch mit Aufzeichnungen über frühere Fälle und schlug darin nach.
»Farintosh,« murmelte er, »ach ja, jetzt erinnere ich mich des Falles. Es handelte sich um einen Opalkopfschmuck. Das war noch vor deiner Zeit, Watson. – Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich mich Ihres Falles mit demselben Interesse annehmen werde, wie damals der Angelegenheit von Frau Farintosh. Über die Geldfrage möchte ich Sie beruhigen, meine Belohnung finde ich einzig in meiner Tätigkeit selbst; doch steht es Ihnen frei, mir meine etwaigen Auslagen bei gelegener Zeit zu ersetzen. Und nun bitte ich Sie, uns alles mitzuteilen, was für die Beurteilung des Falles irgend von Wert sein kann.«
»Ach«, begann die Fremde, »das Schreckliche an meiner Lage ist gerade, daß meine Befürchtungen so unbestimmter Natur sind und mein Verdacht sich nur auf geringfügige Umstände stützt, die jedem andern bedeutungslos erscheinen. Selbst mein Verlobter betrachtet alle meine Vermutungen nur als Eingebungen meiner überreizten Nerven. Er sagt es nicht gerade heraus, allein ich merke es an seinen beschwichtigenden Antworten und ausweichenden Blicken. Aber Sie, Herr Holmes, sollen ja imstande sein wie nur wenige, das menschliche Herz zu durchschauen. Ihr Rat wird mir gewiß einen Weg durch all die Gefahren zeigen, von denen ich jetzt umgeben bin.« Fragend hob sie den Blick zu Holmes.
»Bitte, fahren Sie ruhig fort«, ermunterte er sie.
»Ich heiße Helene Stoner und wohne zusammen mit meinem Stiefvater an der Westgrenze von Surrey. Er ist der letzte der Roylotts von Stoke Moran, die eine der ältesten Familien Englands waren.«
Sherlock Holmes nickte. »Der Name ist mir bekannt«, sagte er.
»Die Familie gehörte einst zu den reichsten in ganz England und ihre Besitzungen erstreckten sich bis über die Grenzen der benachbarten Grafschaften hinaus. Im vorigen Jahrhundert jedoch kam der Besitz viermal hintereinander in leichtsinnige Hände, und als dann noch einer der Erben sich dem Spiel ergab, war der Ruin der Familie besiegelt. Ein paar Hufen Landes und der zweihundert Jahre alte Familiensitz, auf dem aber hohe Hypotheken lasteten, war alles, was übrig blieb. Der vorige Gutsherr harrte noch bis zu seinem Tode dort aus, indem er das schwere Los eines verarmten Edelmannes trug; sein einziger Sohn dagegen, mein jetziger Stiefvater, sah ein, daß er sich den neuen Verhältnissen anpassen mußte; er verschaffte sich ein Darlehen von einem Verwandten, das ihm das Studium der Medizin ermöglichte. Dann ließ er sich in Kalkutta nieder, wo er sich mit großer Willenskraft und durch seine tüchtigen Kenntnisse eine ausgebreitete Praxis erwarb. Im Jähzorn über einen Diebstahl in seinem Hause erschlug er jedoch einen eingeborenen Diener und entging nur mit Mühe einem Todesurteil. Er erhielt eine lange Freiheitsstrafe, nach deren Verbüßung er verbittert und enttäuscht nach England zurückkehrte. Während seines Aufenthalts in Indien heiratete Dr Roylott meine Mutter, die junge Witwe des Generalmajors Stoner von der bengalischen Artillerie. Meine Zwillingsschwester Julia und ich waren damals erst zwei Jahre alt. Die Mutter besaß ein Vermögen, das etwa tausend Pfund im Jahr einbrachte und das sie unserem Stiefvater vollständig überließ mit der Bedingung, im Falle unserer Verheiratung jeder von uns beiden eine gewisse Summe jährlich auszuzahlen. Bald nach unserer Rückkehr nach England kam meine Mutter bei einem Eisenbahnunfall ums Leben – es sind jetzt acht Jahre her. Nun gab Dr Roylott seine Versuche auf, sich in London eine ärztliche Praxis zu gründen, und zog mit uns in das alte Stammschloß in Stoke Moran. Da die Hinterlassenschaft meiner Mutter unsere Bedürfnisse reichlich deckte, so hätten wir ein zufriedenes und glückliches Leben führen können.
Allein mit unserem Stiefvater ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor. Anstatt freundschaftlichen Verkehr mit unseren Nachbarn anzuknüpfen, die anfangs hoch erfreut darüber waren, wieder einen Stoke Moran auf dem alten Familiensitz einziehen zu sehen, schloß er sich in sein Haus ein, und wenn er es jemals verließ, bekam er mit jedem, der ihm in den Weg lief, den heftigsten Streit. Ein förmlich krankhafter Jähzorn war überhaupt ein Erbstück der Männer in der Familie, und bei meinem Stiefvater mochte durch seinen langen Aufenthalt in den Tropen diese Eigenschaft wohl noch verstärkt worden sein. Die Folge war, daß er in eine Reihe häßlicher Streitigkeiten verwickelt wurde, die ihn zweimal vor Gericht brachten, bis er zuletzt der Schrecken des ganzen Dorfes war und alles bei seinem bloßen Anblick die Flucht ergriff, denn er besitzt eine riesige Stärke und kennt in seiner Wut keine Grenzen.
Vorige Woche erst warf er den Dorfschmied über das Brückengeländer ins Wasser, und ich mußte alles, was ich an Geld hatte, opfern, damit die Angelegenheit nicht vor Gericht gebracht wurde. Mit keinem Menschen hielt er Freundschaft, außer mit den herumziehenden Zigeunern; sie durften auf den paar Morgen Brachland, die von dem ganzen Besitztum noch geblieben sind, ihr Lager aufschlagen. Oft kehrte er in ihren Zelten ein, ja er begleitete sie sogar wochenlang auf ihren Wanderzügen. Eine leidenschaftliche Vorliebe hat er für indische Tiere, die er sich aus Kalkutta kommen läßt; gegenwärtig besitzt er einen Leoparden und einen Pavian, die er in seinem Anwesen frei umherlaufen läßt und die den Dorfbewohnern denselben Schrecken einjagen wie ihr Herr selbst.
Nach dieser Schilderung werden Sie mir sicher glauben, daß meine Schwester und ich kein leichtes Leben geführt haben. Niemand wollte bei uns bleiben, und lange Zeit mußten wir die ganze Hausarbeit allein verrichten. Obgleich Julia erst dreißig Jahre alt war, als sie starb, hatte sie doch bereits graue Haare wie ich auch.«
»Ihre Schwester ist also gestorben?«
»Ja; es ist gerade zwei Jahre her; und von ihrem Tode möchte ich Ihnen eben Genaueres mitteilen. Sie werden es verstehen, daß wir unter diesen Umständen wenig Gelegenheit zum Verkehr mit unseresgleichen hatten. Nur bei unserer Tante Honoria Westphail durften wir von Zeit zu Zeit einen kurzen Besuch machen. Sie ist eine unverheiratete Schwester meiner Mutter und wohnt in der Nähe von Harrow. Vor zwei Jahren lernte Julia bei einem solchen Besuch über Weihnachten einen auf Halbsold gesetzten Major der Marine kennen, mit dem sie sich verlobte. Unser Stiefvater erhob gegen die Verbindung keine Einwendung; allein vierzehn Tage vor der Hochzeit trat das schreckliche Ereignis ein, das mich meiner einzigen Gefährtin beraubte.«
Holmes, der mit geschlossenen Augen in seinen Armstuhl zurückgelehnt, den Kopf im Kissen vergraben, zugehört hatte, schlug nun die Lider ein wenig auf und warf einen Blick auf die Erzählerin.
»Bitte, vergessen Sie auch nicht den kleinsten Umstand«, sagte er.
»Das wird mir nicht schwer fallen, denn alle Vorgänge dieser entsetzlichen Zeit stehen mir unauslöschlich im Gedächtnis. – Das Wohnhaus ist, wie gesagt, sehr alt, auch wird zur Zeit nur der eine Flügel bewohnt. Die Schlafzimmer befinden sich im Erdgeschoß, während die Wohnzimmer im mittleren Stockwerk liegen. Von den Schlafzimmern hatte das erste unser Stiefvater, das zweite meine Schwester und das dritte ich selbst. Eine Verbindung zwischen ihnen besteht nicht, dagegen führen alle drei Türen auf denselben Gang. – Ich spreche doch verständlich?«
»Vollkommen.«
»Die Fenster der drei Zimmer gehen auf den Rasenplatz vor dem Hause. An jenem schrecklichen Abend also zog sich unser Stiefvater zeitig in sein Schlafzimmer zurück; trotzdem wußten wir wohl, daß er sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, denn meine Schwester wurde durch den Geruch der starken indischen Zigarre belästigt, die er zu rauchen pflegte. Sie kam deshalb in mein Zimmer herüber, um noch eine Zeitlang mit mir über ihre bevorstehende Hochzeit zu plaudern. Es war elf Uhr, als sie mich wieder verließ; an der Tür blieb sie jedoch stehen und schaute noch einmal zurück.
›Sag' mir, Helene‹, fragte sie, ›hast du jemals ein Pfeifen vernommen, wenn nachts alles totenstill ist?‹
›Nein, niemals.‹
›Ich habe auch schon gedacht, vielleicht seist du es, die nachts im Schlafe pfeift. Aber du glaubst doch auch nicht, daß das sein kann?‹
›Gewiß nicht, warum denn?‹
›In den letzten Nächten ertönte etwa um drei Uhr morgens ein leiser heller Pfiff. Ich habe einen leichten Schlaf und bin daran aufgewacht. Woher der Laut kam, kann ich nicht sagen, – vielleicht aus dem Nebenzimmer, vielleicht auch vom Vorplatz herauf. Ich dachte, ich wollte dich doch fragen, ob du es auch gehört hast.‹
›Nein, ich habe nichts gehört. Das muß von dem Zigeunergesindel unten im Park herkommen.‹
›Höchst wahrscheinlich; aber es wundert mich doch, daß du es nicht auch gehört hast, wenn es wirklich von unten kam.‹
›Ich schlafe eben fester als du.‹
›Nun, es ist ja jedenfalls nichts von Bedeutung‹, versetzte sie lächelnd; damit schloß sie die Tür, und wenige Augenblicke darauf hörte ich, wie sie ihre Türe abschloß.«
»Schlossen Sie sich denn nachts regelmäßig ein?« fragte Holmes.
»Stets.«
»Und warum taten Sie das?«
»Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, daß unser Stiefvater eine Tigerkatze und einen Pavian hielt; wir fühlten uns deshalb nicht sicher, wenn unsere Türen nicht verschlossen waren.«‹
»Ja freilich. Bitte, fahren Sie nur fort.«
»Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden. Ein unbestimmtes Vorgefühl drohenden Unheils bedrückte mich. Sie erinnern sich, daß ich und meine Schwester Zwillinge waren, und Sie wissen sicher auch, wie eng man da miteinander verbunden ist. Es war eine unheimliche Nacht. Draußen heulte der Wind, und der Regen schlug klatschend gegen die Läden. Plötzlich ertönte mitten durch das Tosen des Sturmes ein wilder Angstschrei. Ich erkannte die Stimme meiner Schwester. Rasch sprang ich aus dem Bett und stürzte auf den Gang hinaus. Während ich meine Tür öffnete, war es mir, als hörte ich ein leises Pfeifen, wie meine Schwester es beschrieben hatte, und wenige Augenblicke darauf ein klingendes Geräusch wie vom Fall eines schweren metallenen Gegenstandes. Die Zimmertüre meiner Schwester war schon aufgeklinkt und öffnete sich langsam. Starr vor Angst wartete ich auf den Anblick, der sich mir bieten würde; da sah ich beim Schein der Flurlampe meine Schwester unter der Tür erscheinen; schreckensbleich, die Hände hilfesuchend ausgestreckt, schwankte sie hin und her, als wäre sie berauscht. Ich eilte auf sie zu und schlang die Arme um sie, aber gerade in diesem Augenblick versagten ihr die Knie. Sie stürzte zu Boden, wand und krümmte sich wie in furchtbaren Schmerzen, und ihre Glieder zogen sich krampfhaft zuckend zusammen. Ich meinte zuerst, sie habe mich nicht erkannt, aber als ich mich über sie beugte, stieß sie plötzlich mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde, die abgebrochenen, undeutlichen Worte hervor: ›Oh, mein Gott! Helene! Es war {". . . "} Band {". .! . . . "} getupfte Band {". . .!"}‹ Sie machte den Versuch, noch etwas zu sagen, wobei sie in der Richtung nach unseres Stiefvaters Schlafzimmer deutete, als ein neuer gräßlicher Krampfanfall ihr die Worte im Munde erstickte. Ich wollte eben unsern Stiefvater herbeiholen und rief laut nach ihm; da kam er mir bereits im Schlafrock entgegengeeilt. Als er zu meiner Schwester trat, hatte sie das Bewußtsein schon verloren. Er flößte ihr noch Kognak ein und ließ auch ärztliche Hilfe aus dem Dorfe herbeiholen, aber es nützte alles nichts mehr, sie wurde immer schwächer und starb, ohne daß sie noch einmal zu sich gekommen wäre. Dies waren die Umstände, unter denen ich meine geliebte Schwester verloren habe.«
»Einen Augenblick!« unterbrach sie Holmes, »haben Sie das Pfeifen und den metallenen Klang ganz bestimmt wahrgenommen? Könnten Sie darauf schwören?«
»Dasselbe fragte mich auch der Gerichtsarzt bei der Totenschau. Ich habe zwar den durchaus sicheren Eindruck, als hätte ich beides gehört, doch kann ich mich am Ende auch getäuscht haben; bei dem Tosen des Sturmes krachte ja das alte Haus in allen Fugen.«
»War ihre Schwester angekleidet?«
»Nein, sie trug nur ihr Nachtgewand. In der rechten Hand hielt sie noch ein herabgebranntes Lichtstümpfchen und in der linken eine Zündholzschachtel. Sie hatte keinen Lichtschalter am Bett, es war auch kein Steckkontakt vorhanden, um eine Nachttischlampe anzuschließen. Deshalb hielt sie sich immer Kerze und Streichhölzer auf dem Nachttisch bereit.«
»Sie hat also noch Licht gemacht und sich umgeschaut, als das Geräusch entstand. Das ist von Wichtigkeit. Und zu welchem Ergebnis gelangte der Leichenbeschauer?«
»Er untersuchte den Fall sehr sorgfältig, denn das auffallende Treiben unseres Stiefvaters war in der ganzen Grafschaft bekannt; er war jedoch nicht imstande, eine bestimmte Todesursache zu entdecken. Aus meinen Mitteilungen ging hervor, daß die Tür von innen verschlossen gewesen war, und die Fenster waren durch altmodische Läden mit breiten Eisenstäben verrammelt, die jede Nacht vorgelegt wurden. Auch die Wände und der Fußboden wurden untersucht, aber nirgends wurde ein Anhaltspunkt gefunden. Der Kamin ist zwar weit, aber mit vier starken Eisenstäben vergittert. Meine Schwester war also zweifellos ganz allein, als ihr Geschick sie ereilte. Auch von einer Einwirkung äußerer Gewalt war keine Spur an ihr zu entdecken.«
»Und Gift – wie steht es damit?«
»Die Leiche wurde von ärztlicher Seite daraufhin untersucht, aber ohne Erfolg.«
»Was ist nun Ihre Ansicht über die Ursache dieses bedauerlichen Todesfalls?«
»Ich bin der Meinung, daß meine Schwester nur infolge einer durch Schrecken hervorgerufenen Nervenerschütterung starb, obwohl ich von der Ursache dieses Schreckens keine Ahnung habe.«
»Hielten sich zu jener Zeit Zigeuner in der Nähe des Hauses auf?«
»Jawohl; es sind fast immer einige da.«
»Und was glauben Sie, daß Ihre Schwester mit der Andeutung von einem ›getupften Band‹ oder auch einer ›getupften Bande‹ meinte?«
»Das möchte ich fast für eine Ausgeburt des Fieberwahns halten; dann meine ich aber auch wieder, es könnte sich auf eine Bande von Menschen, vielleicht gerade auf die Zigeuner im Park, bezogen haben. Vielleicht haben ihr die getupften Tücher, die viele von ihnen um den Kopf tragen, zu der auffallenden Bezeichnung Anlaß gegeben.«
Holmes schüttelte den Kopf, als sei er ganz und gar nicht befriedigt.
»Wir tappen noch ganz im Dunkeln«, meinte er, »aber bitte, erzählen Sie nun weiter.«
»Zwei Jahre sind seitdem vergangen, und mein Leben wurde einsamer als je. Vor einem Monat jedoch hat ein lieber langjähriger Bekannter namens Percy Armitage um mich angehalten. Mein Stiefvater hat nichts dagegen, und so wollen wir noch in diesem Frühjahr heiraten. Seit zwei Tagen werden an dem westlichen Flügel unseres Wohnhauses Ausbesserungen vorgenommen. Dabei wurde eine Wand meines Schlafzimmers durchbrochen. Ich mußte deshalb das Zimmer, in dem meine Schwester starb, beziehen und in ihrem Bett schlafen. Stellen Sie sich nun meinen wahnsinnigen Schrecken vor, als ich in der letzten Nacht plötzlich ebenfalls das leise Pfeifen vernahm, das ihren Tod vorherverkündet hatte. Ich sprang aus dem Bett und schaltete das Licht an, vermochte aber nichts Beunruhigendes im Zimmer zu entdecken. Zu aufgeregt, um wieder einschlafen zu können, kleidete ich mich an und schlich mich, sobald es dämmerte, aus dem Hause, ließ mir in dem gegenüberliegenden Gasthaus zur Krone einen Wagen anspannen und fuhr nach Leatherhead und von da mit dem Morgenzug weiter nach London, um Sie aufzusuchen und um Ihren Rat zu bitten.«
»Das war das Vernünftigste, was Sie tun konnten«, versetzte Holmes. »Aber haben Sie mir auch alles gesagt?«
»Gewiß, alles.«
»Ich bin nicht ganz überzeugt davon, Fräulein Stoner. Sie schonen Ihren Stiefvater.«
»Warum? Was wollen Sie damit sagen?«
Statt einer Antwort schlug Holmes die Manschette über dem rechten Handgelenk der Erzählerin zurück.
Fünf kleine blaue Male, sichtlich von fünf Fingern herrührend, zeichneten sich auf ihrem Arm ab.
»Sie sind mißhandelt worden,« sagte Holmes.
Tief errötend bedeckte sie die Stelle wieder. »Er ist ein rauher Mann,« sagte sie, »der vielleicht selbst kaum weiß, wie stark er ist.«
Ein langes Schweigen folgte; das Kinn in die Hand stützend, blickte Holmes in das prasselnde Kaminfeuer. »Eine höchst rätselhafte Sache,« sagte er zuletzt. »Ich hätte noch tausenderlei Fragen, ehe ich mich über den Weg schlüssig mache, den wir einschlagen müssen. Und doch dürfen wir keinen Augenblick verlieren. Ließe es sich wohl machen, daß wir die drei Schlafzimmer ohne Wissen Ihres Stiefvaters besichtigen können, wenn wir heute nach Stoke Moran fahren?«
»Er hat zufällig erwähnt, daß er heute in einer sehr wichtigen Angelegenheit hierher fahren werde. Vermutlich wird er den ganzen Tag fort sein, und dann wären Sie völlig ungestört. Wir haben zwar gegenwärtig eine Haushälterin, aber die ist alt und einfältig und ich könnte sie leicht eine Weile entfernen.«
»Ausgezeichnet. Du hast doch nichts gegen diesen Ausflug, Watson?«
»Nicht das geringste.«
»Dann werden wir uns also beide im Laufe des Tages einfinden. Und was tun Sie selbst, jetzt?«
»Ich möchte gerne noch ein paar Sachen besorgen, weil ich gerade hier bin. Doch will ich mit dem Zwölfuhrzug wieder zurück fahren, so daß Sie mich rechtzeitig zu Hause treffen werden.«
»Sie können uns bald nach Mittag schon erwarten. Ich habe selbst zuerst noch einige Angelegenheiten zu erledigen. Wollen Sie nicht noch bleiben und etwas frühstücken?«
»Nein, ich muß gehen. Es ist mir schon leichter ums Herz, seit ich Ihnen anvertraut habe, was mich bedrückt. Auf Wiedersehen also heute nachmittag.« Sie zog den schwarzen Schleier wieder über ihr Gesicht und verließ das Zimmer.
»Nun, was hältst du von der Sache, Watson?« fragte Holmes, sich in seinen Stuhl zurücklehnend.
»Es scheint mir eine dunkle, unheimliche Geschichte.«
»Sehr dunkel und sehr unheimlich sogar.«
»Und doch, wenn tatsächlich Fußboden und Wände ganz in Ordnung sind, und durch Tür, Fenster und Kamin nichts hereinkommen konnte, muß unzweifelhaft die Schwester zur Zeit ihres rätselhaften Todes allein gewesen sein.«
»Wie erklärst du dir dann aber das nächtliche Pfeifen und die eigentümliche Äußerung der Sterbenden?«
»Das kann ich mir nicht denken.«
»Dieses nächtliche Pfeifen, die Anwesenheit einer Zigeunerbande, die mit dem alten Doktor auf vertrautem Fuß stand, und die Tatsache, daß dieser offenbar das größte Interesse daran hatte, eine Heirat seiner Stieftochter zu verhindern, sind starke Verdachtsmomente. Wenn ich sie mit der Andeutung der Sterbenden zusammenhalte und schließlich mit dem metallenen Klang, den Fräulein Stoner gehört hat und der sehr wohl von der Wiederbefestigung der Vorlegestange an einem Fensterladen herrühren konnte, so will es mir doch scheinen, als dürften wir hoffen, von dieser Grundlage aus des Rätsels Lösung zu finden.«
»Aber was sollen denn die Zigeuner getan haben?«
»Davon habe ich allerdings auch keine Ahnung.«
»Ich meine, gegen diese ganze Auffassung ließe sich doch sehr viel einwenden.«
»Das muß ich freilich selbst zugeben; gerade deswegen gehen wir noch heute nach Stoke Moran. Ich muß mich überzeugen, ob die Einwendungen stichhaltig sind oder sich beseitigen lassen. – Aber was ist denn hier eigentlich los!« rief er plötzlich aus.
Mit einemmal war nämlich die Zimmertür aufgeflogen, und eine gewaltige Männergestalt in einem sonderbaren, halb gelehrten, halb bäuerischen Aufzug hatte sich in ihrem Rahmen aufgepflanzt. Der Eindringling trug einen hohen schwarzen Hut und einen Rock mit langen Schößen, dazu Stulpenstiefel, und in den Händen eine Reitpeitsche. Er war so groß, daß er buchstäblich oben am Türbalken anstieß, und so umfangreich, daß er die Öffnung völlig auszufüllen schien. Auf seinem breiten, mit zahllosen Runzeln übersäten, sonnenverbrannten Gesicht spiegelten sich alle schlechten Leidenschaften. Er wandte den Blick bald mir, bald meinem Freunde zu, und dabei gaben ihm seine tiefliegenden, gelb unterlaufenen Augen und die weitvorstehende schmale, fleischlose Nase das Aussehen eines grimmigen alten Raubvogels.
»Welcher von euch beiden ist Holmes?« fragte er in unverschämtem Tone.
»So heiße ich; aber ich habe nicht das Vergnügen ...« antwortete mein Freund ruhig.
»Ich bin Dr Grimesby Roylott von Stoke Moran.«
»Darf ich bitten, daß Sie Platz nehmen, Herr Doktor«, sagte Holmes verbindlich.
»Fällt mir nicht ein. Meine Stieftochter ist dagewesen. Ich bin ihr nachgegangen. Was wollte sie bei Ihnen?«
»Es ist noch etwas kalt für die Jahreszeit!«, gab Holmes zur Antwort.
»Was sie Ihnen gesagt hat, will ich wissen!« schrie der andere wütend.
»Trotzdem soll sich, wie ich höre, die Krokusblüte ganz gut anlassen«, fuhr Holmes unerschütterlich fort.
»Machen Sie nur keine Winkelzüge«, rief jetzt der grobe Kerl, indem er einen Schritt vortrat und die Reitpeitsche schwang. »Ich kenne Sie, Schurke. Habe schon längst von Ihnen gehört. Sie sind Holmes, der Schnüffler!«
Mein Freund lächelte.
»Holmes, der Allerweltslückenbüßer!«
Sein Gesicht erheiterte sich immer mehr.
»Holmes, der General-Kriminalpolizeispitzel!«
Jetzt lachte Holmes hell auf. »Sie sind ja äußerst witzig«, sagte er. »Wenn Sie hinausgehen, machen Sie auch die Tür zu, es zieht ganz entschieden.«
»Erst sage ich meine Sache, und dann gehe ich. Lassen Sie sich nur nicht einfallen, Ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Meine Tochter war da – ich weiß es, ich bin ihr nachgegangen! Ich rate keinem, mir in die Quere zu kommen! Da, sehen Sie her!« Damit trat er rasch auf den Kamin zu, nahm den Schürhaken und bog ihn mit seinen mächtigen braunen Händen vollständig krumm.
»Sehen Sie zu, daß Sie mir nicht unter die Finger kommen!« schrie er Holmes noch zu, warf den verbogenen Schürhaken wieder in den Kamin und schritt hinaus.
»Nun, das ist ja ein recht liebenswürdiger Kumpan«, meinte Holmes lachend. »Ich bin zwar nicht ganz so vierschrötig wie er, aber wenn er noch einen Augenblick dageblieben wäre, hätte ich ihm zeigen können, daß meine Finger an Kraft den seinen nicht viel nachgeben.« Dabei nahm er den stählernen Schürhaken und bog ihn mit einem Ruck wieder gerade.
»Ein selten unverschämter Mensch! Dieser Zwischenfall verleiht übrigens unserem Vorhaben nur noch einen Reiz mehr. Ich hoffe bloß, daß unsere Schutzbefohlene ihre Unvorsichtigkeit nicht zu büßen bekommt. – Aber nun wollen wir frühstücken, Watson, und dann will ich nach der Gerichtsregistratur gehen, wo ich mir einige Daten zu verschaffen hoffe, die uns in dieser Sache vielleicht von Nutzen sein können.«
Es war ungefähr ein Uhr, als Holmes von seinem Ausgang zurückkam. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand, das ganz mit Notizen und Zeichnungen bedeckt war.
»Ich habe mir das Testament der Frau Roylott zeigen lassen«, sagte er. »Um ihre Willensmeinung ganz genau festzustellen, mußte ich den heutigen Wert der Anlagepapiere ausrechnen, um die es sich dabei handelt. Der Gesamtertrag, der zur Zeit ihres Todes fast elfhundert Pfund betrug, beläuft sich jetzt infolge des Rückgangs im Werte höchstens noch auf siebenhundertfünfzig Pfund. Nun kann jede der Töchter im Falle ihrer Verehelichung eine Rente von zweihundertfünfzig Pfund ansprechen. Es ist also augenscheinlich, daß, falls beide Töchter sich verheiratet hätten, von der ganzen Herrlichkeit blutwenig übrig geblieben wäre, ja, daß sogar schon die Abfindung einer Tochter dem Doktor eine ganz empfindliche Einbuße verursacht hätte. Mein Vormittag war also gut angewendet; ich habe jetzt den Beweis in Händen, daß ihm alles daran gelegen sein mußte, die Heirat zu hindern. Wir wollen nun in dieser wichtigen Sache keine Zeit mehr verlieren, zumal der Alte Wind davon hat, daß wir uns mit seinen Angelegenheiten beschäftigen. Wenn du also bereit bist, wollen wir uns einen Wagen nach der Waterloo station bestellen. Bitte, stecke auch deinen Revolver ein. Damit kommt man gegenüber Herrschaften, die stählerne Schürhaken krumm biegen, am besten aus. Wenn wir dann noch Kamm und Zahnbürste mitnehmen, so denke ich, daß wir alles haben, was wir brauchen.«
Am Bahnhof hatten wir das Glück, gerade einen Zug nach Leatherhead zu treffen; dort nahmen wir einen Wagen, mit dem wir vier oder fünf Meilen weit durch die freundlichen Gelände von Surrey fuhren. Es war ein herrlicher Tag, klarer Sonnenschein und kaum ein Wölkchen am Himmel. Die Bäume und Hecken am Wege erglänzten im ersten Grün, und die Luft war von dem erfrischenden Geruch des feuchten Erdreichs erfüllt. Lebhaft empfand wenigstens ich für meine Person den eigentümlichen Gegensatz zwischen dem lieblichen Frühlingsbilde und der unheimlichen Aufgabe, die unsrer wartete. Holmes saß, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, mit untergeschlagenen Armen und gesenktem Haupte, in tiefes Nachdenken versunken da. Plötzlich fuhr er auf, klopfte mir auf die Schulter und deutete nach rechts. »Sieh dorthin!« rief er.
Ein dichter Park zog sich jenseits der Wiesen einen sanften Abhang hinauf, der oben von einem Wäldchen bekränzt war; mitten aus dem Dickicht ragte der altersgraue Dachfirst eines Herrenhauses hoch hervor.
»Stoke Moran?«, fragte er.
»Jawohl, Herr, das ist Dr Grimesby Roylotts Haus«, erwiderte der Fahrer.
»Wo der Umbau gemacht wird? Das ist unser Ziel.«
»Dort drüben liegt das Dorf«, fuhr der Mann fort, indem er auf die Dächer deutete, die in einiger Entfernung zur Linken sichtbar wurden; »aber wenn Sie zu Roylotts Hause wollen, so sind Sie früher dort, wenn Sie hier die Steige hinaufgehen und dann den Fußweg über die Felder einschlagen. Dort drüben, wo die Dame geht.«
»Die Dame ist Fräulein Stoner, wie mir scheint«, sagte Holmes und hielt die Hand über die Augen. »Ja, ich glaube, es wird das Einfachste sein, wenn wir Ihrem Rat folgen.«
Wir stiegen aus und bezahlten unser Fahrgeld. Der Wagen wendete und fuhr nach Leatherhead zurück.
»Ich hielt es für zweckmäßig«, meinte Holmes, während wir die Steige hinaufgingen, »den Mann glauben zu lassen, wir seien wegen der Bauarbeit oder zu irgend einem andern geschäftlichen Zweck hergekommen. Das beugt vielleicht unnützem Gerede vor. – Guten Tag, Fräulein Stoner, Sie sehen, wir haben Wort gehalten.«
Mit offener Herzlichkeit kam unsere Schutzbefohlene uns entgegengelaufen. »Ich habe Sie sehnlich erwartet!« rief sie und drückte uns warm die Hand. »Es hat sich alles geschickt gefügt. Der Vater ist nach London gegangen und wird schwerlich vor Abend zurückkommen.«
»Wir haben unterdessen das Vergnügen gehabt, des Herrn Doktors Bekanntschaft zu machen«, entgegnete Holmes und gab ihr mit ein paar Worten eine flüchtige Schilderung unseres Erlebnisses.
Sie wurde bei dieser Kunde weiß bis zu den Lippen. »Er ist mir also nachgegangen?« fragte sie fassungslos.
»So scheint es.«
»Er ist sehr schlau, man ist eigentlich nie sicher vor ihm. Ich habe so Angst, bis er jetzt nach Hause kommt.«
»Seien Sie unbesorgt. Vielleicht sind wir noch schlauer als er. Auf jeden Fall müssen Sie sich heute nacht vor ihm einschließen. Wird er gewalttätig, so bringen wir Sie zu Ihrer Tante nach Harrow. Jetzt müssen wir aber unsere Zeit nach besten Kräften ausnützen, also führen Sie uns bitte gleich in die Zimmer, die wir zu besichtigen haben.«
Das Gebäude mit seinen grauen, moosbewachsenen Quadersteinen bestand aus einem hohen Mittelbau, von dem an jedem Ende ein geschweifter Flügel auslief. An dem linken Flügel waren die zerbrochenen Fenster mit Brettern vernagelt, und das Dach teilweise eingestürzt – ein Bild des Verfalls. Der Mittelbau befand sich schon in etwas besserem Stand, und der rechte Flügel machte einen verhältnismäßig neuen Eindruck; die Vorhänge an den Fenstern und der blaue Rauch, der sich über den Schornsteinen kräuselte, zeigten an, daß hier die Familie wohnte. An der Außenwand war ein Gerüst aufgeschlagen und das Mauerwerk durchgebrochen; von einem Arbeiter war jedoch zur Zeit weit und breit nichts zu sehen. Holmes ging langsam auf dem schlecht gepflegten Rasenplatz auf und ab und untersuchte die Fenster aufs peinlichste von außen.
»Dies hier gehört wohl zu Ihrem früheren Schlafzimmer, das mittlere zu dem Ihrer Schwester, und das letzte zunächst dem Mittelbau zu Dr Roylotts Schlafzimmer?«
»Ganz richtig. Aber gegenwärtig schlafe ich in dem mittleren.«
»Während der baulichen Arbeiten vermutlich, übrigens kommt es mir nicht gerade vor, als ob hier an der Außenwand die Ausbesserung dringend nötig gewesen wäre.«
»Ganz und gar nicht. Ich glaube, daß es lediglich ein Vorwand war, um mich aus meinem Zimmer zu vertreiben.«
»Möglich. Und an der andern Seite des schmalen Flügels läuft wohl der Gang hin, auf den die drei Zimmer münden? Natürlich hat er auch Fenster.«
»Aber nur ganz kleine, durch die ein Mensch nicht hereinkommen kann.«
»Da Ihre Schwester und Sie Ihre Zimmer nachts ja abschlossen, so waren sie sowieso von dieser Seite her unzugänglich. Und jetzt schließen Sie bitte einmal die Läden in Ihrem Zimmer.«
Nachdem die Läden vorgelegt waren, untersuchte sie Holmes sorgfältig von innen und außen, dann machte er auf jede mögliche Weise den Versuch, sie aufzubrechen, jedoch ohne Erfolg. Nirgends war der geringste Spalt, in dem sich hätte etwa ein Messer ansetzen lassen, um die Stange zu lockern. Dann untersuchte er auch die Angeln, allein sie waren aus starkem Eisen und saßen fest in dem massiven Mauerwerk. »Hm«, meinte er und rieb sich verlegen das Kinn, »meine Annahme stößt allerdings auf Schwierigkeiten. Hier konnte kein Mensch hereinkommen, wenn die Läden geschlossen waren. Nun, wir werden ja sehen, ob die innere Besichtigung vielleicht Licht in die Sache bringt.«
Eine kleine Seitentüre führte in den weißgetünchten Gang, auf den die drei Schlafzimmer mündeten. Das äußerste wollte Holmes nicht sehen, deshalb begaben wir uns sogleich nach dem mittleren, worin Fräulein Stoner gegenwärtig schlief und in dem ihre Schwester gestorben war. Es war ein gemütlicher kleiner Raum mit niederer Decke und großem Kamin, wie man sie in alten Landsitzen oft trifft. Eine braune Kommode stand in der einen Ecke, ein schmales, weiß bezogenes Bett in einer anderen und ein Toilettentisch zur Linken des Fensters. Diese Möbel bildeten zusammen mit zwei geflochtenen Stühlen und einem Teppich in der Mitte die ganze Einrichtung. Das eichene Holzwerk des Bodens und der Wände war alt und wurmstichig, es mochte wohl noch aus der Zeit stammen, als das Haus erbaut wurde. Holmes schob sich einen Stuhl in eine Ecke, ließ von diesem Platz aus den Blick ringsumher laufen und musterte stumm den ganzen Raum mit größter Genauigkeit.
»Wohin geht diese Klingel?« fragte er zuletzt und deutete dabei auf einen dicken Klingelzug, der neben dem Bett herabhing, so daß die Quaste auf dem Kissen ruhte.
»In das Zimmer der Haushälterin.«
»Sie scheint neuer zu sein als die übrige Einrichtung.«
»Ja, sie wurde erst vor ein paar Jahren angebracht.«
»Vermutlich auf Verlangen Ihrer Schwester?«
»Nein, soviel ich weiß, hat Julia sie nie benützt. Wir waren gewohnt, uns alles, was wir brauchten, selbst zu holen.«
»Nun, dann war es wahrhaftig recht überflüssig, einen so schönen Klingelzug anzubringen. Sie erlauben wohl, daß ich mich jetzt ein paar Minuten auf dem Boden umsehe.« Er legte sich mit der Lupe in der Hand nieder und kroch behende vor-und rückwärts, um jede Spalte zwischen den Dielen auf das genaueste zu untersuchen. Hierauf prüfte er die Holztäfelung des Zimmers ebenso sorgfältig. Zuletzt trat er an das Bett und betrachtete es längere Zeit, während er gleichzeitig den Blick an der Wand hinter demselben auf-und abgleiten ließ. Schließlich faßte er den Glockenzug und tat einen tüchtigen Ruck daran.
»Das ist ja nur eine Scheinklingel!« sagte er.
»Läutet sie nicht?«
»Nein, es ist nicht einmal ein Draht daran befestigt. Das ist höchst interessant. Sehen Sie nur, sie ist gerade über dem kleinen Luftloch an einem Haken festgemacht.«
»Wie seltsam! Das ist mir noch nie aufgefallen.«
»Höchst wunderlich!« murmelte Holmes, indem er nochmals an der Klingel zog. »Einiges in diesem Zimmer ist wirklich ganz merkwürdig. Zum Beispiel muß ja der Baumeister ein vollkommener Narr gewesen sein, daß er ein Luftloch ins Nebenzimmer gemacht hat, während es gerade so gut ins Freie hinausgehen konnte.«
»Es stammt ebenfalls erst aus neuerer Zeit«, bemerkte Fräulein Stoner.
»Es wurde wohl zugleich mit dem Glockenzug angebracht?«
»Ja, damals hat man verschiedene kleine Änderungen vorgenommen.«
»Die recht interessanter Art sind – Scheinklingeln und Luftlöcher, die keine frische Luft zuführen. Mit Ihrer Erlaubnis, Fräulein Stoner, wollen wir jetzt unsere Besichtigung in Dr Roylotts Zimmer fortsetzen.«
Dieses war größer, aber ebenso einfach eingerichtet. Ein Feldbett, ein kleines Gestell mit Büchern, zumeist medizinischen Inhalts, ein Lehnstuhl neben dem Bett, ein einfacher Holzstuhl an der Wand, ein runder Tisch und ein großer eiserner Geldschrank fielen zunächst ins Auge. Holmes ging langsam durch das Zimmer und besichtigte ein Stück um das andere mit der schärfsten Aufmerksamkeit.
»Was ist hier drinnen?« fragte er, an den Eisenschrank klopfend.
»Meines Stiefvaters Geschäftspapiere.«
»So! – Sie haben also schon hineingesehen?«
»Nur ein einziges Mal, vor Jahren. Es war nichts darin als Papiere, soviel ich mich erinnere.«
»Ist nicht vielleicht eine Katze drinnen?«
»Eine Katze? Nein! Wie kommen Sie auf den sonderbaren Einfall?«
»Sehen Sie mal hierher!« Er nahm eine kleine Untertasse voll Milch von dem Schrank herunter, die oben gestanden hatte.
»Nein; wir halten keine Katze. Aber ein Leopard und ein Pavian sind im Hause.«
»Ja – so! Nun, ein Leopard ist ja eben nichts als eine große Katze, allerdings dürfte eine Untertasse voll Milch für seine Bedürfnisse nicht weit reichen. Nun möchte ich nur noch eines ergründen.« Damit kniete er vor den Holzstuhl hin und prüfte den Sitz mit größter Aufmerksamkeit.
»Danke. Das wäre also festgestellt«, sagte er, indem er aufstand und seine Lupe einsteckte. »Hallo! Da sehe ich noch etwas Interessantes!«
Der Gegenstand, der seinen Blick auf sich gezogen hatte, war eine kleine Hundepeitsche, die an der einen Ecke des Bettes hing und deren Schnur so zusammengeknüpft war, daß sie eine runde Schleife bildete.
»Was hältst du davon, Watson?«
»Das ist eine ganz gewöhnliche Hundepeitsche. Nur kann ich mir nicht denken, wozu die Schleife daran dienen soll.«
»Also ist sie doch nicht so ganz gewöhnlicher Art, nicht wahr? Ach ja, es ist eine schlechte Welt! Und am allerschlimmsten ist es, wenn ein fähiger Kopf seine Gaben zu verbrecherischen Gedanken gebraucht. – Ich glaube, ich habe jetzt genug gesehen, Fräulein Stoner; wir wollen jetzt wieder auf den Rasenplatz hinausgehen.«
Noch nie hatte ich meinen Freund mit so grimmiger Miene und so finster zusammengezogenen Brauen gesehen, als nun, da wir den Schauplatz der Untersuchung verließen. Mehrmals gingen wir auf dem Rasen auf und ab, aber weder ich noch Fräulein Stoner mochten ihn durch eine Frage in seinen Gedanken stören, bis er selbst sich dem tiefen Nachsinnen entriß.
»Es ist unbedingt nötig, Fräulein Stoner«, begann er endlich, »daß Sie meinem Rat in jeder Hinsicht strengstens Folge leisten.«
»Sie können sich darauf verlassen.«
»Der Fall ist zu ernst, um die geringste Unschlüssigkeit zu gestatten. Ihr Leben hängt möglicherweise von Ihrem unbedingten Gehorsam ab.«
»Ich verspreche Ihnen, daß ich alle Ihre Anweisungen genau befolgen werde.«
»Vor allem muß ich mit meinem Freund diese Nacht in Ihrem Zimmer verbringen.«
Ganz verwundert starrten wir ihn beide an.
»Jawohl, das muß sein. Sie sollen gleich das Nähere darüber hören. Das Haus dort drüben ist doch das Dorfwirtshaus?«
»Jawohl, das ist die ›Krone‹.«
»Sehr gut. Sieht man Ihre Fenster von dort aus?«
»Ja.«
»Wenn Ihr Stiefvater heimkommt, müssen Sie Kopfweh vorschützen und sich in Ihr Zimmer einschließen. Sobald Sie dann hören, daß er sich zur Ruhe begeben hat, öffnen Sie die Riegel am Fenster und den Laden, stellen ein Windlicht – so etwas werden Sie ja wohl im Hause haben – zum Zeichen für uns ans Fenster und ziehen sich dann in aller Stille nach Ihrem früheren Schlafzimmer zurück. Sie können sich doch sicher trotz der Bauarbeiten für eine Nacht darin einrichten.«
»O ja, ganz gut.«
»Das Weitere überlassen Sie uns.«
»Was haben Sie vor?«
»Wir werden die Nacht in Ihrem Zimmer verbringen, um dem Geräusch, das Sie so erschreckt hat, auf die Spur zu kommen.«
»Ich habe das Gefühl, Herr Holmes, als hätten Sie schon einen bestimmten Verdacht, als wüßten Sie mehr, als Sie mir zugeben wollen«, sagte Fräulein Stoner und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Das kann wohl sein.«
»Dann sagen Sie mir ums Himmels willen, was an dem Tod meiner Schwester schuld war.«
»Ich möchte gern erst noch sichere Beweise haben.«
»Könnte ich nicht wenigstens erfahren, ob meine Ansicht zutrifft, daß sie an einem plötzlichen Schrecken gestorben ist.«
»Nein, das glaube ich nicht. Nach meiner Überzeugung lag wohl eine greifbare Ursache vor. Nun aber, Fräulein Stoner, müssen wir gehen; denn wenn Dr Roylott zurückkäme und uns sähe, wäre unser ganzer Besuch umsonst gewesen. Leben Sie wohl und halten Sie sich tapfer; wenn Sie meinen Anweisungen pünktlich nachkommen, dürfen Sie versichert sein, daß wir Ihnen alle Gefahren bald aus dem Wege geräumt haben werden.«
Drüben in der »Krone« verschafften wir uns im oberen Stockwerk zwei Zimmer, deren Fenster gerade nach dem Parktor und dem bewohnten Flügel des Herrenhauses hinüberschauten. In der Dämmerung kam Dr Roylott angefahren; seine Riesengestalt ragte hoch empor neben dem schmächtigen Burschen, der den Wagen lenkte. Als dieser das Gittertor nicht ohne weiteres aufbrachte, hörten wir den Doktor mit seiner heiseren Stimme wütend auf ihn einschreien, am liebsten wäre er mit den geballten Fäusten auf ihn losgegangen. Einige Minuten später blitzte plötzlich aus einem der Wohnzimmer das Licht einer Lampe durch das Laubwerk herüber.
»Weißt du, Watson«, sagte Holmes, als wir in der zunehmenden Dunkelheit beisammen saßen, »es ist mir wirklich nicht ganz wohl dabei, daß ich dich heute nacht mitnehmen soll. Die Sache ist durchaus nicht ohne ernstliche Gefahr.«
»Aber du glaubst, daß ich dir dabei von Nutzen sein kann?«
»Deine Gegenwart ist möglicherweise von ganz unbezahlbarem Werte.«
»Dann werde ich selbstverständlich mitgehen.«
»Das ist sehr freundlich von dir.«
»Du sprichst von Gefahr. Offenbar hast du in den Zimmern mehr gesehen, als ich entdecken konnte.«
»Nein, ich habe wahrscheinlich nur mehr Schlüsse daraus abgeleitet. Gesehen hast du wohl gerade so viel wie ich.«
»Außer dem Klingelzug habe ich nichts Bemerkenswertes wahrgenommen. Zu welchem Zweck der aber dienen sollte, kann ich mir nicht vorstellen, das gestehe ich ehrlich.«
»Hast du auch das Luftloch gesehen?«
»Ja, aber ich meine, eine kleine Öffnung, die aus einem Zimmer ins andere führt, ist doch nichts so ganz Ungewöhnliches. Sie ist ja so klein, daß kaum eine Ratte durchschlüpfen kann.«
»Ich wußte schon, ehe wir hierher kamen, daß wir ein solches Luftloch finden würden.«
»Aber, bester Holmes – –!«
»Du erinnerst dich gewiß, daß uns Fräulein Stoner berichtete, ihre Schwester habe Dr Roylotts Zigarre gerochen. Nun, das brachte mich sogleich auf den Gedanken, daß zwischen den beiden Zimmern eine Verbindung bestehen muß; natürlich konnte sie nur klein sein, sonst wäre sie bei der gerichtlichen Untersuchung bemerkt worden; so kam ich zu dem Schluß, daß es sich um ein Luftloch handeln werde.«
»Aber was kann denn dabei Schlimmes sein?«
»Es ist doch zum mindesten ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß das Mädchen, das in seinem Bett schläft, plötzlich stirbt, gerade nachdem man über demselben ein Luftloch angebracht und daneben einen Klingelzug befestigt hat. Kommt dir das nicht auch auffallend vor?«
»Ich vermag noch immer nicht einzusehen, wie das alles zusammenhängen soll.«
»Hast du vielleicht etwas Besonderes an dem Bett bemerkt?«
»Nein.«
»Es ist am Fußboden angenagelt. Ist dir das sonst schon jemals vorgekommen?«
»Nein, das ist allerdings sonst nicht gerade üblich.«
»Fräulein Stoner konnte also ihr Bett nicht von der Stelle rücken. Es muß gerade unter dem Luftloch und dem Seil stehen bleiben – ein Seil müssen wir es doch eigentlich nennen, da es auf einen Klingelzug offenbar überhaupt nicht abgesehen war.«
»Holmes!« rief ich aus, »ich glaube, mir dämmert allmählich eine Ahnung auf, wohin deine Andeutungen zielen. Wir sind wohl gerade zur rechten Zeit gekommen, um ein raffiniert ausgedachtes Verbrechen zu verhindern.«
»Jawohl, raffiniert ausgedacht! Wenn ein Arzt zum Verbrecher wird, so tut er es allen andern zuvor; denn er besitzt die nötigen Kenntnisse und hat starke Nerven. So war es zu allen Zeiten. Der Mensch, mit dem wir es zu tun haben, stellt zwar selbst berüchtigte Vorbilder in den Schatten, aber wir werden es trotzdem wagen, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Es warten unsrer noch Aufregungen genug, bevor die Nacht um ist; deshalb laß uns jetzt in aller Ruhe und Gemütlichkeit eine Pfeife zusammen rauchen und ein paar Stunden an etwas Heiteres denken.«
Etwa um neun Uhr erlosch der Lichtschein zwischen den Bäumen, und das Herrenhaus lag nun in tiefem Dunkel. Zwei Stunden waren langsam dahingeschlichen, als plötzlich, mit dem Schlag elf Uhr, ein einzelnes Licht gerade uns gegenüber aufblitzte.
»Es ist das Zeichen für uns«, sagte Holmes aufspringend; »es kommt aus dem Mittelfenster.«
Beim Verlassen des Hauses erklärten wir dem Wirt mit ein paar Worten, daß wir noch einen späten Besuch bei einem Bekannten machen wollten, wo wir möglicherweise auch die Nacht zubringen würden. Im nächsten Augenblick blies uns bereits der kalte Wind auf der finsteren Landstraße ins Gesicht, und der kleine Lichtschein vom Herrenhause war nun unser einziger Leitstern auf dem dunkeln, unheimlichen Pfade.
In den Park hineinzukommen kostete uns wenig Mühe, denn in der alten Umfassungsmauer gähnten an mehreren Stellen weite Lücken. Wir hielten uns unter den Bäumen, bis wir auf dem Rasenplatz waren. Als wir ihn eben überschritten hatten und im Begriff waren, durch das Fenster einzusteigen, schoß aus dem dichten Lorbeergebüsch ein Wesen hervor, das einem häßlichen, mißgestalteten Kinde ähnlich sah. Zuerst ließ es sich unter allerlei Gliederverrenkungen ins Gras niederfallen, dann rannte es eilig über den Rasen davon und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Entsetzt waren wir beide stehengeblieben. Holmes war im ersten Augenblick nicht weniger erschrocken als ich selbst. In seiner Aufregung preßte er mir das Handgelenk zusammen, daß ich hätte aufschreien mögen. Dann aber brach er in ein unterdrücktes Lachen aus und legte seine Lippen an mein Ohr.
»Diesmal haben wir uns schön anführen lassen«, flüsterte er, »das ist ja der Pavian.«
Ich hatte die ausgefallenen Liebhabereien des Hausherrn ganz vergessen. Ein Leopard war überdies ja auch noch da und konnte uns jeden Augenblick auf den Schultern sitzen. Ich gestehe, daß ich mich erst etwas erleichtert fühlte, als ich mich im Innern des Schlafzimmers befand, nachdem ich zuvor, dem Beispiel meines Freundes folgend, die Schuhe ausgezogen hatte. Holmes schloß nun geräuschlos die Läden, stellte das Windlicht auf den Tisch und ließ dann seinen Blick im Zimmer umherschweifen. Es war noch alles genau so, wie wir es am Tage gesehen hatten. Durch die hohle Hand flüsterte mir Holmes so leise zu, daß ich ihn eben noch verstehen konnte:
»Das geringste Geräusch kann uns alles verderben.«
Ich nickte, zum Zeichen, daß ich verstanden habe.
»Wir dürfen das Licht nicht brennen lassen. Er würde den Schein durch das Luftloch sofort bemerken.«
Ich nickte wieder.
»Schlafe nur nicht ein; es könnte dich das Leben kosten. Halte deine Pistole für den Notfall bereit; ich will mich auf das Bett setzen, und du nimmst den Stuhl dort.«
Ich zog meinen Revolver aus der Tasche und legte ihn auf den Tischrand.
Holmes hatte eine lange dünne Gerte mit hereingebracht, die er nun samt einer Taschenlampe neben sich auf das Bett legte. Dann löschte er den kleinen Docht zwischen den Fingern aus und wir saßen im Dunkeln.
Niemals werde ich diese entsetzliche Wache je vergessen können. Kein Laut, nicht der leiseste Atemzug war vernehmbar, und doch wußte ich, daß mein Begleiter kaum ein paar Schritte von mir mit offenen Augen in derselben Erregung und Spannung aller Nerven dasaß, wie ich selbst. Die Läden ließen nicht die kleinste Nachthelle herein, und die Finsternis, die uns umgab, war undurchdringlich. Draußen ließ sich von Zeit zu Zeit der Schrei eines Nachtvogels und einmal auch, gerade vor unserem Fenster, ein langgezogenes katzenartiges Wimmern hören, das uns bewies, daß der Leopard wirklich frei umherlief. Aus weiter Ferne klangen die tiefen Töne der Kirchenuhr herüber, die alle Viertelstunden schlug. Wie lang wurden sie uns, diese Viertelstunden! Es schlug zwölf, eins, zwei, drei – und noch immer saßen wir da und harrten stumm der Dinge, die da kommen sollten.
Plötzlich blitzte an dem Luftloch ein flüchtiger Lichtschein auf, der sofort wieder verschwand, während sich nun ein starker Geruch von brennendem Öl und erhitztem Metall bemerkbar machte. Im Nebenzimmer war eine Blendlaterne angezündet worden. Ich hörte, daß sich etwas leise bewegte. Dann war wieder alles still, während der Geruch sich immer mehr ausbreitete. Eine halbe Stunde saßen wir so und lauschten mit allen Sinnen. Nun ließ sich mit einemmal ein anderer Laut vernehmen – ein ganz leises, sanftes Zischen, wie wenn ein dünner Dampfstrahl längere Zeit aus einem Kessel ausströmt. Augenblicklich sprang Holmes vom Bette auf, knipste seine Taschenlampe an und hieb mit seiner Gerte wütend auf den Klingelzug los.
»Du siehst es doch, Watson?« rief er, »siehst du es?«
Aber ich sah nichts. In dem Augenblick, als Holmes Licht machte, vernahm ich zwar ein sanftes helles Pfeifen, aber bei der plötzlichen Helle, die meine müden Augen traf, war ich nicht imstande, zu unterscheiden, auf was mein Freund so grimmig hineinschlug. Doch bemerkte ich wohl, daß er totenblaß war, und daß sich Entsetzen und Abscheu in seinen Zügen malten.
Jetzt hatte er aufgehört zu schlagen und blickte noch zu dem Luftloch empor, als plötzlich aus der nächtlichen Stille der schauerlichste Schrei hervordrang, den ich je vernommen habe. Er schwoll immer lauter und lauter an; Schmerz, Angst und Wut – das alles klang vereint aus diesem gräßlichen, unbeschreiblichen Laut an unser Ohr. Später erfuhren wir, daß drunten im Dorf, ja sogar in dem entlegenen Pfarrhause bei diesem Schrei die Schläfer aufgefahren waren. Uns stockte vor Entsetzen der Atem, und starr blickten wir einer den andern an, bis auch der letzte Widerhall in der tiefen Stille erstorben war.
»Was mag das bedeuten?« brachte ich mühsam hervor.
»Das bedeutet, daß alles vorüber ist«, gab Holmes zur Antwort, »und vielleicht ist es schließlich am besten so. Nimm deine Pistole zur Hand, dann wollen wir in Dr Roylotts Zimmer hinübergehen.«
Mit leichenblassem Gesicht schritt er voran auf den Gang hinaus. Zweimal klopfte er an des Doktors Zimmertür, ohne daß von drinnen eine Antwort kam. Nun drückte er die Klinke auf und trat ein, ich mit gespannter Pistole dicht hinter ihm.
Ein eigentümlicher Anblick bot sich unseren Augen. Auf dem Tische stand eine Blendlaterne, aus deren halbgeöffnetem Türchen ein greller Lichtstrahl auf den Eisenschrank fiel, dessen Türe weit offen stand. Neben dem Tisch auf dem Holzstuhl saß Dr Roylott in einem langen grauen Schlafrock, aus dem unten seine bloßen Knöchel hervorschauten, während seine Füße in roten türkischen Pantoffeln steckten. Auf seinem Schoße lag die Hundepeitsche mit der langen Schleife, die uns am Tage zuvor in die Augen gefallen war. Sein Kinn war aufwärts gezogen, und seine glasigen Augen starrten schauerlich nach einer Ecke der Stubendecke empor. Um die Stirne hatte er ein eigentümliches gelbes Band mit bräunlichen Tupfen, das anscheinend fest um seinen Kopf gewunden war. Bei unserem Eintreten gab er keinen Laut von sich und rührte sich nicht.
»Das Band! Das getupfte Band!« flüsterte Holmes.
Ich machte einen Schritt vorwärts. Auf einmal begann der eigentümliche Kopfschmuck sich zu bewegen, und mitten aus den Haaren des Dasitzenden erhob sich der platte, spitzige Kopf und der aufgeblasene Hals einer Schlange.
»Es ist eine Sumpfotter!« rief Holmes aus, »die giftigste aller indischen Schlangen. Zehn Sekunden nach ihrem Biß lebte er schon nicht mehr. Hier ist in Wahrheit das Böse auf seinen Urheber zurückgefallen, und der Verbrecher stürzte selbst in die Grube, die er andern gegraben. Wir wollen das Tier vor allem wieder in seinen Behälter befördern; dann können wir Fräulein Stoner wegbringen und die Behörde von dem Vorgefallenen in Kenntnis setzen.«
Bei diesen Worten nahm er dem Toten rasch die Peitsche vom Schoß, warf die Schleife um den Hals der Schlange und zog sie von ihrem struppigen Lager weg. Dann trug er sie auf Armeslänge vor sich her nach dem Schrank, legte sie hinein und verschloß ihn wieder.
*
Dies ist der wahre Hergang beim Tode des Dr Grimesby Roylott von Stoke Moran. Meine Erzählung ist bereits sehr lang geworden; ich will es mir deshalb ersparen, noch ausführlich zu berichten, wie wir die traurige Kunde Fräulein Stoner mitteilten, als wir sie mit dem Frühzug in die Obhut ihrer Tante nach Harrow brachten, und wie die Behörde auf dem Wege ihres langsamen Verfahrens endlich zu dem Schlusse gelangte, daß der Doktor sein plötzliches Lebensende durch unvorsichtiges Spielen mit einem gefährlichen Lieblingstier verschuldet habe. Das wenige, was ich über den Fall noch weiter erfuhr, teilte mir Holmes unterwegs auf der Heimfahrt am nächsten Tage mit.
»Ich war«, erklärte er mir, »zu einer gänzlich irrigen Schlußfolgerung gelangt, woraus du siehst, mein lieber Watson, wie gefährlich es stets ist, seine Schlüsse auf ungenügender Grundlage aufzubauen. Die Anwesenheit der Zigeuner und die doppelsinnige Äußerung der unglücklichen Julia, durch die sie zweifellos den Eindruck bezeichnen wollte, den die Gestalt der Schlange im Scheine des Zündhölzchens auf sie gemacht hatte, genügten, um mich auf eine völlig falsche Spur zu bringen. Ich kann nur das Verdienst für mich in Anspruch nehmen, daß ich augenblicklich davon abging, als es mir klar wurde, daß jede Gefahr, welcher Art sie auch sei, die der Bewohnerin des Zimmers drohte, weder durch die Tür noch durch das Fenster nahen könne. Sofort fiel mir nun das Luftloch auf mit dem Klingelzug daneben, der auf das Bett herabhing. Als ich dann entdeckte, daß es gar keine Klingel war, und ich überdies das Bett am Boden befestigt fand, erwachte in mir augenblicklich der Verdacht, daß das Seil nur dazu diene, um irgend etwas an ihm durch das Luftloch auf das Bett herunterzulassen. Sofort dachte ich an eine Schlange; hielt ich mir dazu weiter vor Augen, daß der Doktor sich beständig Tiere aus Indien schicken ließ, so glaubte ich wirklich annehmen zu dürfen, daß ich mich nun auf der richtigen Spur befinde. Der Gedanke, sich einer Art von Gift zu bedienen, das sich durch keinerlei chemische Untersuchung nachweisen ließ, war einem Menschen mit den Kenntnissen und der Gewissenlosigkeit des Doktors, der lange im Orient gelebt hatte, ganz besonders zuzutrauen. Die rasche Wirkung eines solchen Giftes mußte ihm von seinem Standpunkt aus ebenfalls sehr erwünscht sein. Der Leichenbeschauer hätte wirklich ein scharfes Auge haben müssen, um die zwei winzigen dunklen Pünktchen wahrzunehmen, die einzige Spur, die der Biß der Giftzähne hinterließ. Dann dachte ich über das Pfeifen nach. Er mußte natürlich die Schlange wieder zurückrufen, ehe es hell wurde, damit das Opfer sie nicht erblicken konnte. Deshalb hatte er sie, wahrscheinlich mittels der Milch, die wir bei ihm vorfanden, so abgerichtet, daß sie auf seinen Pfiff zu ihm kam. Zur geeigneten Zeit ließ er sie allemal durch das Luftloch hinüberschlüpfen; er konnte sich darauf verlassen, daß sie an dem Klingelzug auf das Bett hinunterkroch. Ob sie die Schlafende sofort beißen würde, war allerdings nicht sicher; möglich, daß diese eine ganze Woche lang der Gefahr Nacht für Nacht entging; aber früher oder später mußte sie doch zum Opfer fallen.
Zu diesen Schlußfolgerungen war ich bereits gelangt, ehe ich überhaupt des Doktors Zimmer betreten hatte. An seinem Stuhl sah ich dann, daß er sich regelmäßig darauf zu stellen pflegte; natürlich, denn er hätte ja sonst nicht zu dem Luftloch hinaufzureichen vermocht. Der Anblick des eisernen Schrankes, der Untertasse mit Milch und der Schlinge an der Peitschenschnur genügten dann vollends, um jeden Zweifel bei mir zu verscheuchen. Der metallene Klang, den Fräulein Stoner hörte, rührte offenbar von der Tür des Schrankes her, den ihr Vater hinter seiner grausigen Bewohnerin hastig zuschlug. Welche Schritte ich dann tat, und wie sehr sich die Richtigkeit meiner Auffassung bestätigt hat, ist dir ja bekannt. Sobald ich die Schlange zischen hörte, was du ohne Zweifel gleichfalls gehört hast, machte ich augenblicklich Licht und ging auf sie los ...«
»Was zur Folge hatte, daß sie sich schleunigst durch das Luftloch davon machte.«
»Und zur weiteren Folge, daß sie sich drüben auf ihren Herrn stürzte. Ein paar von den Hieben mit meiner Gerte saßen ganz gehörig; dadurch erwachte bei der Schlange ihre natürliche Bösartigkeit, so daß sie auf den nächsten besten losging. In dieser Beziehung trage ich zweifellos mittelbar die Schuld an des Doktors Tode, aber ich glaube kaum, daß sie mein Gewissen sonderlich schwer bedrücken wird.«
*
Als der einsame Leser in dem stillen Raum bis hierher gekommen war, sagte er plötzlich laut mitten ins Zimmer hinein:
»Nein, an dieser Schuld hab ich wahrhaftig noch nie schwer getragen.« Seine Hand ließ das Blatt sinken und sein Blick ging weit in die Ferne. Das altersgraue, verwahrloste Gemäuer von Stoke Moran wuchs noch einmal für eine Weile vor ihm auf mit allen Einzelheiten jener Schreckensnacht. Dann zerflatterte es wieder wie ein Nebelgebilde und nichts blieb zurück als die innere Gewißheit, daß er die Verantwortung für diesen Ausgang der Tragödie auf Stoke Moran mit gutem Gewissen tragen konnte.
Mit ruhiger Miene griff Holmes nach der nächsten Nummer des »Telegraph«. »Sieh da«, sagte er vor sich hin, »das ist ja diese merkwürdige Geschichte mit der hydraulischen Presse:
{!§§!}Der Daumen des Ingenieurs
Namen
{" John H. Watson "} John H Watson
{" Sherlock Holmes "} Sherlock Holmes
{" Victor Hatherley "} Victor Hatherley
{" Inspektor Bradstreet "} Inspektor Bradstreet
{" Colonel Warburton "} Colonel Warburton
{" Mary Morstan "} Mary Morstan
{" Colonel Lysander Stark "} Colonel Lysander Stark
{" Mr. Ferguson "} Mr. Ferguson
{" Elise "} Elise
{" Jeremiah Hayling "} Jeremiah Hayling
{" Dr. Becher "} Dr. Becher
{" Venner & Matheson "} Venner and Matheson
Ortschaften
{" Baker Street "} Baker Street
{" Victoria Street "} Victoria Street
{" Paddington Station "} Paddington Station
{" Reading "} Reading
{" Eyford in Berkshire "} Eyford in Berkshire
{" Grennwich "} Grennwich
{" Leatherhead "} Leatherhead
{" Oxfordshire "} Oxfordshire
Von all den schwierigen Kriminalfällen, die meinem Freunde Sherlock Holmes zur Lösung übertragen wurden, erhielt er nur zwei durch meine Vermittlung. Einer davon betraf Hatherleys Daumen. Wenn sich auch das großartige Kombinationstalent meines Freundes, dem er so wunderbare Erfolge zu verdanken hatte, hier weniger dabei entfalten konnte, so fing diese Aufgabe doch so toll an und verlief so dramatisch, daß sie mir wohl der Aufzeichnung wert erscheint. Jedenfalls hat sich der tiefe Eindruck, den ich damals erhielt, noch heute, nach zwei Jahren, kaum abgeschwächt.
*
Es war an einem Sommertag. Ein Bahnbeamter, den ich bei einem Unfall behandelt hatte, verkündete mein Lob in allen Tonarten und hätte mir am liebsten jeden Patienten geschickt, dessen er nur habhaft werden konnte.
Eines Morgens, kurz vor sieben, wurde mir gemeldet, daß eben jener Bahnbeamte mit einem andern, offenbar verletzten Herrn gekommen wäre, um mich zu sprechen. Ich eilte die Treppe hinunter, da ich vermutete, es könne sich wieder um einen Eisenbahnunfall handeln, bei dem rasche Hilfe notwendig sei. Mein alter Freund kam mir vor dem Zimmer schon entgegen.
»Ich hab' ihn hergebracht«, flüsterte er, mit dem Daumen über die Schulter deutend, »den hätten wir sicher.«
»Was fehlt ihm denn?« fragte ich, denn das sonderbare Benehmen des Bahnbeamten verriet mir, daß es eine ganz besondere Bewandtnis mit dem Verletzten haben mußte, den er so sorglich in mein Zimmer gesperrt hatte. »Es ist 'n neuer Patient«, raunte er mir in seiner treuherzigen Art leise zu. »Ich hielt es für schlauer, ihn gleich selbst herzubringen, so konnte er mir nicht mehr entwischen. Nun kann er nicht mehr weg. Aber jetzt muß ich gehen, Doktor, die Pflicht ruft.« Und fort war er, ehe ich noch Zeit gefunden hatte, ihm für diese gutgemeinte Belebung meiner garnicht beabsichtigten Praxis zu danken.
Im Empfangszimmer fand ich einen Herrn am Tische sitzen, der einen schlichten, bräunlichen Anzug trug, seine einfache Tuchmütze hatte er auf die dort aufgelegten Bücher gelegt. Eine seiner Hände war in ein völlig mit Blut durchtränktes Taschentuch gewickelt. Er war vielleicht 25 Jahre alt; sein Gesicht war ernst und männlich, aber so bleich, daß es mir den Eindruck machte, als wenn er eben eine schwere Nervenerschütterung durchgemacht hätte, die er trotz aller Anstrengung noch nicht überwinden konnte.
»Verzeihen Sie die frühe Störung, Herr Doktor«, sagte er, »ich habe in dieser Nacht einen ernsten Unfall gehabt. Ich kam heute morgen mit dem Zuge hier an und erkundigte mich bei einem Bahnbeamten, wo ich einen Arzt finden könnte. Dieser Herr hatte die Güte, mich hierher zu begleiten. Ich übergab dem Mädchen meine Karte, doch wie ich sehe, liegt sie noch dort auf dem Tischchen.«
Ich nahm sie auf und las: Victor Hatherley, Ingenieur, Victoriastraße {"16a III"}. Das war also Namen, Beruf und Wohnung meines Morgenbesuches. Dann setzte ich mich zu ihm. »Sie sind also die Nacht durchgefahren?« fragte ich. »Das ist gewöhnlich recht ermüdend und langweilig.«
»Oh, in diesem Falle trifft das nicht zu«, sagte er und dann lachte er, so laut und gellend, daß er sich im Stuhl zurückwarf und sich die Seiten halten mußte. Es lag etwas Krankhaftes in dieser übertriebenen Heiterkeit, das erkannte ich sofort. »Hören Sie auf«, rief ich, »nehmen Sie sich doch zusammen!« Er hatte einen regelrechten hysterischen Anfall, wie er zuweilen bei sehr starken Naturen vorkommt, die eine große Aufregung hinter sich haben.
Erst allmählich beruhigte er sich und nun wurde er dunkelrot vor Verlegenheit.
»Ich habe mich schön lächerlich gemacht vor Ihnen«, keuchte er.
»Durchaus nicht. Bitte, nehmen Sie.« Ich gab ihm etwas Kognak mit Wasser zu trinken.
»Das tut wohl«, sagte er. »Und nun haben Sie vielleicht die Güte, Herr Doktor, und sehen sich einmal meinen Daumen an oder vielmehr die Stelle, wo er gesessen hat.« Er band das Tuch ab und hielt mir die Hand entgegen, deren Anblick selbst mich erschütterte. Neben den vier ausgestreckten Fingern war statt des Daumens nur eine fürchterlich rote, schwammige Fläche. Er mußte bis zur Wurzel abgehackt oder abgerissen worden sein.
»Das ist ja eine furchtbare Wunde, Sie müssen einen bedeutenden Blutverlust gehabt haben.«
»O ja«, antwortete er. »Ich wurde sofort ohnmächtig, nachdem es geschehen war, und muß wohl längere Zeit besinnungslos gelegen haben. Ich blutete noch, als ich wieder zu mir kam, und umschnürte deshalb mein Handgelenk mit dem Taschentuch, das ich mit einem Holzpflock möglichst fest drehte.«
»Das war sehr richtig. – Die Wunde wurde jedenfalls durch ein schweres und scharfes Instrument verursacht?«
»Durch eine Art Schlächterbeil.«
»Vermutlich ein unglücklicher Zufall?«
»O nein, ganz und gar nicht.«
»Also ist es mit Absicht geschehen?«
»Sehr richtig geraten.«
»Aber das ist ja fürchterlich!«
Ich wusch die Wunde aus und legte dann einen antiseptischen Verband an. Er zuckte nicht mit der Wimper und biß sich nur zuweilen auf die Lippen.
»Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte ich nach beendeter Arbeit.
»Es ist mir jetzt wieder viel besser. Ich war wirklich dem Umsinken nahe, aber ich habe auch recht viel durchgemacht.«
»Vielleicht wäre es richtiger, Sie würden jetzt nicht davon sprechen. Es greift Sie sicher sehr an.«
»Jetzt durchaus nicht mehr. Ich muß die Sache so bald wie möglich der Polizei melden, aber wenn meine Wunde nicht einen sehr deutlichen Beweis lieferte, würde ich wahrscheinlich mit meiner Erzählung dort wenig Glauben finden, besonders da ich so gut wie keine sicheren Anhaltspunkte geben kann.«
»Oho!« rief ich, »falls die Geschichte etwas rätselhafter Natur ist und einer Lösung bedarf, dann würde ich Ihnen eigentlich raten, zuerst mit meinem Freund Holmes zu sprechen, ehe Sie auf die Polizei gehen.«
»Von diesem Herrn habe ich schon gehört«, sagte mein Patient, »und ich würde ihm nur zu gern meine Angelegenheit übergeben, obgleich die Polizei natürlich auch benachrichtigt werden muß. Würden Sie so freundlich sein und mir einige Empfehlungsworte mitgeben?«
»Herr Holmes wohnt hier im Hause, ich kann Sie gleich zu ihm führen«, antwortete ich.
Wir gingen nach oben. Sherlock Holmes saß noch im Schlafanzug im Wohnzimmer, las die Polizeiberichte in der »Times« und rauchte seine Morgenpfeife, die er mit allen Stummeln und Endchen der Zigarren stopfte, welche er tags zuvor geraucht hatte und sorgfältig zu sammeln und auf dem Kaminsims zu trocknen pflegte. Er empfing uns in seiner urgemütlichen Art und Weise und ließ frisch gerösteten Speck und Eier bringen, so daß wir uns bald recht behaglich fühlten. Als wir fertig waren, mußte unser neuer Freund in einem bequemen Liegestuhl Platz nehmen, Holmes unterstützte seinen Kopf mit einem Kissen und stellte ihm ein Glas Wasser und Kognak in die Nähe.
»Es scheint mir, Herr Hatherley, als wäre Ihre Angelegenheit nicht ganz gewöhnlicher Natur«, sagte er. »Bitte, machen Sie es sich vollständig bequem und betrachten Sie sich ganz wie zu Hause. Erzählen Sie uns alles so genau wie möglich, aber halten Sie bei der geringsten Ermüdung ein und gebrauchen Sie ab und zu dies kleine Stärkungsmittel.«
»Besten Dank«, sagte mein Patient. »Nachdem Doktor Watson mir den Verband angelegt hat, fühle ich mich wieder ganz gut, und Ihr Frühstück hat die Kur vollendet. Ich will mich so kurz wie möglich fassen, um Ihre Zeit nicht übermäßig in Anspruch zu nehmen.«
Holmes saß in seinem Lehnstuhl; sein gleichgültiges Gesicht mit den halb geschlossenen Augen verriet nichts von seiner scharfsinnigen Forschernatur. Ich saß ihm gegenüber, und wir hörten beide stillschweigend dem seltsamen Bericht des Fremden zu.
»Zuerst muß ich Ihnen sagen«, begann er, »daß ich alleinstehender Junggeselle bin und in einer Mietwohnung in London lebe. Von Beruf bin ich Ingenieur und habe während der sieben Jahre, die ich bei der Ihnen sicher bekannten Firma Venner & Matheson in Grennwich beschäftigt war, mir gute Kenntnisse angeeignet.
Als vor zwei Jahren meine Ausbildung beendet war, und ich durch meines Vaters Tod in den Besitz seines Vermögens kam, entschloß ich mich, selbständig zu werden, und ließ mich in der Victoriastraße nieder. Vermutlich wird jeder Mensch bei diesem ersten Schritt auf die Bahn der Unabhängigkeit ziemlich trübselige Erfahrungen machen; mir ging es jedenfalls nicht anders. In zwei Jahren wurde mein Rat im ganzen dreimal begehrt, und nur einmal wurde mir ein sehr unbedeutender Auftrag erteilt, das war alles! Meine Gesamteinnahmen beliefen sich auf 27 Pfund 10 Schillinge. Von neun Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags lag ich täglich auf der Lauer, bis ich wirklich mutlos wurde und sich der Gedanke in mir festsetzte, daß ich es in einem selbständigen Geschäft nie zu etwas bringen würde. Gestern jedoch, als ich eben im Begriff stand, das Büro zu verlassen, meldete man mir, es wäre ein Herr draußen, der mich zu sprechen wünschte. Ich sah mir seine Karte an, sie trug den Namen Oberst Lysander Stark. Ich ließ den Oberst hereinbitten. Er war etwas über Mittelgröße und von erschreckender Magerkeit, ich entsinne mich nicht, jemals einen so hageren Menschen gesehen zu haben. Sein Gesicht bestand eigentlich nur aus Nase und Kinn, und die Haut war straff über die Backenknochen gespannt. Und doch sah er eigentlich nicht krank aus, denn seine Augen blickten völlig klar, sein Schritt war sicher und sein ganzes Benehmen sehr selbstbewußt. Seine Kleidung war ziemlich einfach, aber sauber; er mochte ungefähr vierzig Jahre zählen.
›Herr Hatherley?‹ fragte er mit deutschem Akzent. ›Sie sind mir als ein Mann empfohlen worden, der nicht nur in seinem Berufe sehr tüchtig ist, sondern auf dessen Verschwiegenheit man sich verlassen kann.‹
Ich verbeugte mich. ›Darf ich fragen, wem ich dieses günstige Zeugnis zu verdanken habe?‹
›Vielleicht ist es richtiger, ich teile es Ihnen nicht sofort mit. Aus derselben Quelle erfuhr ich auch, daß Sie ohne Angehörige und Junggeselle sind und allein in London wohnen.‹
›Das stimmt. Aber ich begreife nicht, was das mit meiner Tüchtigkeit als Fachmann zu tun hat, denn ich muß doch annehmen, daß Sie mich in einer geschäftlichen Angelegenheit zu sprechen wünschen.‹
›Ihre Vermutung ist ganz richtig, und Sie werden gleich sehen, wie sehr meine Fragen damit zusammenhängen. Ich habe allerdings einen Auftrag für Sie, doch er erfordert absolutes, unverbrüchliches Stillschweigen, und Sie werden wohl begreifen, daß solch ein Geheimnis bei einem alleinstehenden Manne besser aufgehoben ist, als bei einem, der eine große Familie hat.‹
›Wenn ich Ihnen etwas verspreche, können Sie sich völlig auf meine Verschwiegenheit verlassen.‹
Ich erinnere mich nicht, je in meinem Leben einem so scharfen, argwöhnischen Blick begegnet zu sein, wie ihn mein Besucher jetzt auf mich warf.
›Ich habe also Ihr Wort?‹ fragte er.
›Sie haben es.‹
›Sie werden über die ganze Sache jetzt und für immer tiefstes Stillschweigen bewahren?‹
›Ich versprach das schon.‹
›Gut‹, sagte er, sprang dann plötzlich auf, war wie der Blitz an der Tür und riß sie auf. Der Vorraum war leer.
›Alles in Ordnung!‹ sagte er zurückkehrend, ›die Angestellten interessieren sich oft mehr als nötig für die Angelegenheiten ihrer Chefs. Nun können wir in Ruhe weiter verhandeln.‹
Er rückte seinen Stuhl dicht an den meinen, und wieder ruhte sein Blick so forschend und lauernd auf mir wie vorhin. Ein abstoßendes Gefühl, ja fast Furcht, stieg in mir auf bei dem seltsamen Gebaren der klapperdürren Gestalt. Selbst auf die Gefahr hin, meinen Auftraggeber wieder zu verlieren, konnte ich meine Ungeduld nicht länger bezwingen.
›Dürfte ich Sie jetzt bitten, mein Herr, Ihre geschäftliche Angelegenheit zur Sprache zu bringen‹, sagte ich. ›Meine Zeit ist kostbar.‹ Der Himmel möge mir diese Lüge vergeben, aber die Worte traten mir unwillkürlich auf die Lippen.
›Würden Ihnen 50 Guineen für die Arbeit einer Nacht genügen?‹
›Selbstverständlich.‹
›Das heißt, ich sage die Arbeit einer Nacht, obgleich es wohl richtiger wäre, von einer Stunde zu sprechen. Wir möchten Sie nur bitten, Ihr Gutachten über eine hydraulische Presse abzugeben, die nicht mehr tadellos funktioniert. Wenn Sie uns zeigen wollten, wo der Fehler steckt, könnten wir die Sache leicht in Ordnung bringen. Wie denken Sie über diesen Auftrag?‹
›Im Vergleich zu der Vergütung erscheint er mir sehr unbedeutend.‹
›Das ist er auch. Nur wünschen wir, daß Sie erst abends mit dem letzten Zuge kommen.‹
›Und wohin?‹
›Nach Eyford in Berkshire. Es ist ein kleiner Ort an der Grenze von Oxfordshire, ungefähr sieben Meilen von Reading. Sie treffen mit dem Auge von Paddington um 11.15 ein.‹
›Das würde ja sehr gut passen.‹
›Ich werde Sie mit dem Wagen abholen, denn unsere Besitzung liegt abseits in ländlicher Einsamkeit. Sie ist stark sieben Meilen von der Station Eyford entfernt.‹
›Aber dann können wir ja kaum vor Mitternacht dort eintreffen und vermutlich ist mir damit jede Gelegenheit zur Rückfahrt abgeschnitten, so daß ich übernachten müßte?‹
›Darüber machen Sie sich keine Sorgen. Ein Nachtlager finden Sie auch bei uns.‹
›Das wäre doch eigentlich sehr umständlich. Könnte ich nicht zu einer besser gelegenen Zeit kommen?‹
›Wir halten gerade diese Stunde für die geeignetste. Für die kleine Unbequemlichkeit, die damit verbunden ist, erhalten Sie als junger, unbekannter Mann ja ein Honorar, wie es Ihre gesuchtesten Kollegen kaum für ihre Gutachten fordern würden. Wenn Sie jedoch mein Anerbieten noch überlegen wollen, so haben Sie ja noch reichlich Zeit.‹
Ich dachte daran, wie gut ich augenblicklich die 50 Guineen brauchen könnte, und erwiderte deshalb: ›Durchaus nicht, ich werde mich sehr gern Ihren Wünschen anpassen; nur möchte ich Sie bitten, mir ein wenig genauer auseinanderzusetzen, um was es sich handelt.‹
›Natürlich. Es ist mir durchaus begreiflich, daß die Verpflichtung, über alles zu schweigen, Ihre Neugierde erregt. Ehe wir Ihnen daher ein bindendes Versprechen abfordern, sollen Sie vollständig klar sehen. Hoffentlich ist hier kein Lauscher zu befürchten?‹
›Das ist ausgeschlossen.‹
›Dann will ich Ihnen alles erklären: Sie wissen wahrscheinlich, daß Walkererde ein sehr kostbarer Artikel ist, den man in England nur an ein bis zwei Orten findet.‹
›Ich habe davon gehört.‹
›Vor einiger Zeit kaufte ich eine sehr kleine Besitzung ungefähr zehn Meilen von Reading. Ich hatte das Glück, auf einem Feld ein Lager von Walkererde zu entdecken. Bei näherer Untersuchung stellte es sich indessen heraus, daß der Fund nur sehr unbedeutend war, daß er eigentlich nur die Verbindung zwischen zwei größeren Lagern bildete, die sich rechts und links davon ausdehnten und meinen beiden nächsten Nachbarn gehörten. Die guten Leute hatten natürlich keine blasse Ahnung, daß ihre Grundstücke so viel wie eine Goldmine enthielten, und es lag daher in meinem Interesse, ihnen das Land abzukaufen, ehe sie seinen wahren Wert kennen lernten. Leider fehlten mir die Mittel zum Kauf. Einige Freunde, denen ich meine Entdeckung mitgeteilt hatte, rieten mir, mein eigenes Lager im geheimen auszunutzen, um auf diese Weise die Mittel zur Erwerbung der Nachbarbesitzungen zu bekommen. Diesen Rat habe ich nun seit längerer Zeit befolgt und bei meinem Unternehmen eine hydraulische Presse benutzt. Wie gesagt, funktioniert diese nun nicht mehr richtig, und ich möchte Sie daher um Ihr Gutachten in dieser Angelegenheit bitten. Jetzt werden Sie sich aber denken können, wie sehr ich auf die Wahrung meines Geheimnisses bedacht sein muß. Käme es jemand zu Ohren, daß ein Ingenieur mein kleines Grundstück besichtigt, so würde das selbstverständlich die Neugierde meiner Nachbarn erregen, und falls die Sache bekannt würde, könnte ich bestimmt jede Hoffnung aufgeben, die Felder zu erwerben und meine Pläne zur Ausführung zu bringen. Aus diesem Grunde habe ich Sie um die größte Diskretion gebeten. Hoffentlich habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?‹
›Ich bin völlig orientiert‹, sagte ich. ›Nur das eine bleibt mir unverständlich, wie Sie die Walkererde vermittels einer hydraulischen Presse gewinnen wollen, man muß sie doch ausgraben wie den Kies aus einer Grube.‹
›Ach‹, sagte er leichthin, ›dabei haben wir unser eigenes Verfahren. Wir pressen Ziegel aus der Erde, um sie leichter und ohne Verdacht zu erregen, fortschaffen zu können. Doch das gehört nicht hierher. Sie sehen, Herr Hatherley, ich habe Ihnen mein ganzes Vertrauen geschenkt und verlasse mich fest auf Sie.‹ Er erhob sich bei diesen Worten.
›Ich erwarte Sie also in Eyford um 11.15.‹
›Ich werde pünktlich erscheinen.‹
›Und Sie sagen bestimmt zu keinem Menschen ein Wort.‹
Noch einmal traf mich ein letzter argwöhnischer, mißtrauischer Blick, und fort war er.
Als ich mir dann später alles in Ruhe überlegte, war ich doch, wie Sie sich wohl denken können, etwas erstaunt über diesen Auftrag, der mir so ganz unerwartet anvertraut worden war. Einerseits stimmte mich das hohe Honorar natürlich sehr froh, denn es überstieg mindestens das Zehnfache dessen, was ich dafür gefordert hätte, auch konnte dieser Auftrag leicht andere nach sich ziehen. Andererseits erschienen mir Gesicht und Benehmen meines neuen Auftraggebers wenig vertrauenerweckend, ebensowenig wie seine Erklärung die Notwendigkeit meines Kommens um Mitternacht rechtfertigte, und seine Angst, ich könnte mein Schweigen brechen, glaubhaft erscheinen ließ. Aber ich verscheuchte all die Gedanken, machte mich nach einem kräftigen Abendessen auf den Weg und fuhr von Paddington ab, ohne einem Menschen von meinem Vorhaben erzählt zu haben.
In Reading hatte ich nicht nur den Zug, sondern auch den Bahnhof zu wechseln, doch ich erreichte gerade noch den Anschluß nach Eyford und langte kurz nach elf auf der kleinen, schlecht beleuchteten Station an. Ich war der einzige Reisende, der hier ausstieg, und außer einem schläfrigen Stationsbeamten mit einer Laterne war kein Mensch weiter zu erblicken. Ich hatte jedoch kaum den Bahnhof verlassen, so fand ich auch meinen Bekannten vom Morgen, er wartete auf der andern Seite des Bahnhofs, die in tiefster Dunkelheit lag. Ohne ein Wort ergriff er meinen Arm und schob mich durch die offenstehende Tür eines Wagens. Dann zog er beide Fenster in die Höhe, ließ die Vorhänge herunter, und fort ging es, so schnell das Pferd laufen konnte.«
»Ein Pferd?« unterbrach Holmes.
»Ja, nur eins.«
»Konnten Sie die Farbe erkennen?«
»Ja, das Licht der Wagenlaterne fiel darauf, als ich einstieg. Es war ein Brauner.«
»War das Tier ermüdet oder frisch?«
»Vollständig frisch.«
»Danke sehr. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrach, und fahren Sie bitte in Ihrer höchst interessanten Erzählung fort.«
»Es ging also los, und zwar fuhren wir mindestens eine Stunde. Oberst Stark hatte nur von sieben Meilen gesprochen, aber meiner Ansicht nach waren es wohl zwölf. Während der ganzen Zeit saß er schweigend neben mir, doch ich war mir bewußt, und ein rascher Seitenblick überzeugte mich davon, daß er mich scharf beobachtete. Die dortigen Landwege schienen in ziemlich traurigem Zustande zu sein, wir wurden furchtbar hin und her geschüttelt. Zuweilen versuchte ich aus dem Fenster zu sehen, doch sie bestanden aus Eisglas, und ich gewahrte nur gelegentlich den hellen Schein eines vorüberfliegenden Lichtes. Hin und wieder versuchte ich auch durch eine Bemerkung die Einförmigkeit der Fahrt zu unterbrechen, aber der Oberst antwortete nur sehr einsilbig, und bald stockte die Unterhaltung wieder. Schließlich hörte das Stoßen des Wagens auf, wir rollten auf einem knirschenden Kiesweg dahin und hielten plötzlich. Oberst Lysander sprang heraus und zog mich, als ich mich anschickte, ihm zu folgen, blitzschnell in einen offenstehenden Torweg. Der Wagen hielt so dicht vor dem Hause, daß es mir nicht gelang, auch nur einen flüchtigen Blick auf die Außenseite des Gebäudes zu werfen. Wir hatten kaum die Schwelle überschritten, so hörte ich schon die Tür schwer hinter uns ins Schloß fallen und konnte kaum noch das Geräusch der davonrollenden Räder vernehmen. Im Hause war es stockfinster, der Oberst tappte nach dem Lichtschalter und murrte halblaut vor sich hin. Plötzlich wurde am Ende des Ganges eine Tür geöffnet, und ein langer, goldener Lichtstrahl fiel auf uns. Bei dem hellen Schein gewahrte ich eine Frauengestalt unter der Türe, mit vorgebeugtem Gesicht starrte sie uns an. Ich konnte deshalb ihre schönen Züge erkennen und ebenso den kostbaren Stoff ihres dunklen Kleides. Sie richtete an meinen Gefährten einige Worte in fremder Sprache, die fast wie eine Frage klangen. Bei seiner rauhen, kurzen Antwort schrak sie heftig zusammen. Der Oberst trat rasch auf sie zu, flüsterte ihr etwas ins Ohr und schob sie wieder ins Zimmer zurück, dann kehrte er zu mir zurück. ›Würden Sie so freundlich sein, hier einige Minuten zu warten‹, sagte er, eine andere Tür öffnend. Es war ein kleines, einfach ausgestattetes Gemach mit einem runden Tisch in der Mitte, auf dem mehrere deutsche Bücher verstreut lagen. Ein Harmonium stand neben der Tür. ›Ich werde Sie keine Minute warten lassen‹, sagte er und verschwand in der Dunkelheit.
Ich betrachtete die Bücher auf dem Tisch und sah trotz meiner Unkenntnis des Deutschen, daß zwei von ihnen wissenschaftlichen und die andern poetischen Inhalts waren. Dann schritt ich zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen, aber die schweren eisernen Läden waren geschlossen und fest verriegelt. Es war ein wunderbar stilles Haus. Im Gange hörte man eine alte Uhr laut ticken, sonst herrschte Todesschweigen rings umher. Ein unbestimmtes, unbehagliches Gefühl ergriff mich. Wer waren diese Deutschen, und was taten sie an diesem seltsamen, weltverlorenen Ort? Und wo befand sich dieser Ort überhaupt? Ich war mindestens zwölf Meilen von Eyford entfernt, doch das war auch alles, was ich wußte, ob es nördlich, südlich, westlich oder östlich davon war, entzog sich meiner Vermutung. Die große Stille ringsumher aber machte es mir zur Gewißheit, daß wir uns auf dem Lande befanden. Ich schritt auf und nieder, leise eine Melodie summend, um mich munter zu erhalten.
Plötzlich, ohne daß vorher ein Laut die unheimliche Stille unterbrochen hätte, öffnete sich langsam die Tür meines Zimmers. In der Öffnung stand die Frau, deren schönes, erregtes Gesicht hell von dem Licht meiner Lampe bestrahlt wurde, hinter ihr lag die Halle in tiefer Dunkelheit. Sie schien mir vor Angst halb ohnmächtig zu sein, und dieser Anblick ließ mein eigenes Herz erstarren. Warnend hielt sie einen Finger empor, um mir Schweigen anzudeuten, und flüsterte mir in gebrochenem Englisch einige Worte zu, wobei sie öfter mit scheuem Blick in die Dunkelheit hinter sich spähte.
›Ich würde gehen‹, sagte sie, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, ›ich würde gehen und nicht hier bleiben. Sie tun gut daran.‹
›Aber, gnädige Frau‹, erwiderte ich, ›meine Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Ich kann mich doch unmöglich entfernen, ehe ich nicht die Maschine gesehen habe‹.
›Es verlohnt sich nicht der Mühe, hier länger zu warten‹, fuhr sie fort. ›Sie können ruhig durch die Haustür gehen, niemand wird Sie hindern‹. Und dann, als sie sah, daß ich nur lächelnd den Kopf schüttelte, verließ sie plötzlich ihre Selbstbeherrschung, und sie trat, die Hände ringend, auf mich zu. ›Um Gottes willen, fliehen Sie, fliehen Sie, bevor es zu spät ist.‹
Doch ich bin eine sehr hartnäckige Natur, und je mehr Schwierigkeiten sich mir in den Weg stellen, je größeren Reiz bekommt eine Sache für mich. Außerdem dachte ich auch an mein Honorar von 50 Guineen, an die anstrengende Reise und daran, daß ich in dieser Gegend doch ganz fremd war und nicht gewußt hätte, wo ich die Nacht verbringen sollte. Warum sollte ich mich davonstehlen, ohne meinen Auftrag ausgeführt zu haben und ohne die mir zustehende Bezahlung bekommen zu haben? Konnte die Frau nicht eine Wahnsinnige sein? Entschlossen schüttelte ich deshalb den Kopf, trotzdem sie mich stärker erschüttert hatte, als ich zugeben wollte und erklärte fest, daß ich auf jeden Fall bleiben würde. Sie wollte noch weiter in mich dringen, doch über uns wurde eine Tür zugeschlagen, und man hörte deutlich zwei Menschen die Treppe herabkommen. Sie blieb einen Augenblick lauschend stehen, rang nochmals verzweifelnd die Hände und verschwand dann plötzlich und geräuschlos, wie sie gekommen war.
Bald darauf trat Oberst Lysander Stark und ein kleiner, dicker Herr bei mir ein, dessen spärlicher Bart aus den Falten seines Doppelkinns herauswuchs, und der mir als Herr Ferguson vorgestellt wurde.
›Dies ist mein Sekretär und Geschäftsführer‹, sagte der Oberst. ›übrigens glaubte ich bestimmt, diese Tür vorhin fest geschlossen zu haben. Es ist mir leid, es hat Ihnen sicher sehr hereingezogen?‹
›Im Gegenteil‹, antwortete ich, ›ich selbst habe die Tür geöffnet, weil mir die Luft hier im Zimmer etwas dumpf vorkam.‹
Er warf mir einen unruhigen Seitenblick zu. ›Wir wollen nun gleich an das Geschäft gehen. Herr Ferguson und ich werde Ihnen jetzt die Maschine zeigen.‹
Ich griff nach meinem Hut, um ihn aufzusetzen.
›Oh, das ist nicht nötig‹, wehrte der Oberst ab, ›sie befindet sich im Hause.‹
›Wie, Sie bohren im Hause nach Walkererde?‹
›Das nicht, wir pressen sie nur im Hause. Doch das gehört nicht zur Sache. Wir möchten Sie nur bitten, die Maschine zu untersuchen und uns auseinanderzusetzen, wo der Fehler steckt.‹
Wir gingen zusammen nach oben, zuerst der Oberst, dann der korpulente Geschäftsführer und zuletzt ich. Das alte Haus war ein wahres Labyrinth von Winkeln und Gängen, engen Wendeltreppen und kleinen, niedrigen Türen, deren Schwellen im Laufe der Zeit von ganzen Generationen tief ausgetreten waren. Nirgends eine Spur von Tapeten oder Möbeln, von den Wänden war die Bekleidung teilweise abgebröckelt, während sich die Feuchtigkeit in grünlich schillernden Stellen darauf niedergeschlagen hatte. Ich bemühte mich, so unbefangen wie möglich auszusehen, aber mir klangen noch immer die unbeachtet gelassenen Warnungen der Dame im Ohr, und ich behielt meine beiden Gefährten scharf im Auge.
Ferguson schien mir ein mürrischer, schweigsamer Mann, doch aus seinen wenigen Äußerungen entnahm ich, daß er mein Landsmann sei. Oberst Lysander Stark hielt jetzt vor einer niedrigen Tür, die er aufschloß. Sie führte in einen kleinen, rechtwinkligen Raum, in welchem wir drei kaum zu gleicher Zeit Platz hatten. Eine Lichtleitung schien nicht darin, denn der Oberst entzündete eine Petroleumlampe, die vor der Tür an einem Haken gehängt hatte. Ferguson blieb draußen, und der Oberst forderte mich auf, einzutreten.
›Wir befinden uns jetzt in der hydraulischen Presse‹, sagte er, ›und es könnte für uns sehr unangenehm werden, wenn sie plötzlich jemand in Bewegung setzen wollte. Die Decke dieser kleinen Kammer wird nämlich von dem Ende des niedergehenden Kolbens gebildet, der mit ungeheurer Gewalt auf den metallenen Fußboden schlägt. Außen sind seitlich enge Wasserröhren angebracht, durch welche die Kraft aufgenommen und in der Ihnen bekannten Weise verstärkt und fortgepflanzt wird. Die Maschine funktioniert sonst tadellos, aber jetzt scheint ein Hemmnis den Gang zu erschweren und die Kraft zu vermindern. Vielleicht haben Sie die Güte, einmal nachzusehen, wie die Sache wieder in Ordnung gebracht werden könnte.‹
Ich nahm ihm die Lampe ab und untersuchte die Maschine sehr sorgfältig. Sie hatte geradezu riesige Dimensionen und mußte einen enormen Druck erzeugen. Doch als ich draußen die Hebel niederdrückte, welche sie in Gang setzten, belehrte mich sofort der eigentümlich zischelnde Ton, daß sich irgendwo ein Leck gebildet haben mußte, das ein Wiederausströmen des Wassers durch einen der Seitenzylinder verursachte. Eine genauere Prüfung bestätigte dies auch bald; einer der Kautschukreifen am oberen Ende der Triebstange war schadhaft geworden und konnte deshalb den Zylinder, in dem sie auf-und niederging, nicht mehr luftdicht abschließen. Dadurch ließ sich die Verminderung der Kraft leicht erklären; ich setzte dies meinen beiden aufmerksamen Zuhörern auseinander und belehrte sie zugleich eingehend über die Abstellung dieses Übelstandes. Darauf kehrte ich noch einmal in den Hauptraum zurück, hauptsächlich um meine eigene Neugierde zu befriedigen. Daß die Erzählung von dem Pressen der Walkererde nur ein Märchen war, hatte ich auf den ersten Blick gesehen; es wäre ja unvernünftig gewesen, für einen so unbedeutenden Zweck solche Riesenmaschine zu verwenden. Die Wände bestanden aus Holz, doch den Boden bildete eine große, eiserne Platte, die völlig mit einer Kruste von metallischen Abfällen bedeckt war. Ich kniete nieder und versuchte, ein wenig davon abzukratzen, um mich genauer von dem Bestand zu überzeugen, als ich hinter mir einen Ausruf hörte und das gespensterhafte Antlitz des Obersten sich zu mir herabbeugen sah.
›Was machen Sie denn da?‹ fragte er.
Ich fühlte einen heftigen Groll in mir aufsteigen, daß man es versucht hatte, mich so hinters Licht zu führen. ›Ich bewundere nur Ihre Walkererde‹, antwortete ich, ›wahrscheinlich wäre es mir leichter geworden, Ihnen einen Rat wegen Ihrer Maschine zu erteilen, wenn ich ihren wirklichen Zweck gekannt hätte.‹
Augenblicklich bereute ich, daß mir diese Worte entschlüpft waren. Sein Gesicht versteinerte sich förmlich, seine grauen Augen funkelten mich unheilverkündend an.
›Dann tue ich wohl besser daran, Sie in alles einzuweihen,‹ sagte er. Er machte einen Schritt rückwärts, schlug die kleine Tür zu und drehte den Schlüssel um. Ich stürzte mich darauf und rüttelte an dem Griff, aber das Schloß rührte sich nicht und gab nicht im geringsten meinen verzweifelten Anstrengungen nach. ›Hallo!‹ schrie ich gellend, ›hallo! Oberst Stark! Öffnen Sie sofort!‹
Plötzlich aber klang durch die Stille ein Ton, der mein Herz vor Schrecken stillstehen ließ. Es war das Geklirr der Hebel und das Zischen des schadhaften Zylinders. Großer Gott! Er hatte die Maschine in Gang gesetzt! Die Lampe stand noch auf dem Boden, den ich hatte untersuchen wollen. Bei ihrem Licht konnte ich deutlich erkennen, wie sich die schwarze Decke über mir senkte, langsam, ruckweise, aber keiner wußte besser als ich, mit wie furchtbarer Kraft; in der nächsten Minute mußte ich zu einem formlosen Brei zerstampft sein. Ich warf mich stöhnend gegen die Tür und zerrte mit meinen Nägeln am Schloß. Ich beschwor den Obersten, mir zu öffnen, doch mein Flehen wurde durch das erbarmungslose Rasseln draußen übertönt. Jetzt befand sich die Decke nur noch ein bis zwei Fuß über meinem Kopf, mit ausgestreckter Hand konnte ich ihre harte, rauhe Oberfläche fühlen. Und wie ein Blitz durchzuckte mich der Gedanke, daß ich mir den Todeskampf vielleicht durch meine Lage erleichtern könnte. Würde ich mich auf das Gesicht legen, so würde mir zuerst das Rückgrat zerbrochen werden. Bei dem Gedanken daran überliefen mich kalte Schauer. Legte ich mich aber auf den Rücken, würde ich dann die Kraft haben, diesen tödlichen, schwarzen Koloß auf mich herabkommen zu sehen? Schon war es mir unmöglich geworden, aufrecht zu stehen, da wurde mein Herz plötzlich von neuer Hoffnung erfüllt. Wie schon erwähnt, bestanden nur Decke und Boden aus Eisen, die Wände waren aus Holz. Als ich mich noch einmal verzweifelt nach Rettung umschaute, bemerkte ich zwischen zwei Brettern einen kleinen, gelben Lichtschimmer, der sich schnell verbreiterte, indem eines der Bretter zurückgeschoben wurde. Ich vermochte es zuerst kaum zu fassen, daß ich durch diese kleine Öffnung wirklich dem Tode entrinnen könnte. Doch schon im nächsten Augenblick war ich hindurchgekrochen und lag nun halb ohnmächtig auf der anderen Seite. Die Öffnung hatte sich wieder hinter mir geschlossen, ich hörte nur noch das Klirren der zerbrechenden Lampe und kurz darauf das Aufschlagen der beiden Metallplatten, das mir deutlich bewies, mit wie knapper Not ich dem Tode entronnen war. Als ich wieder zum Bewußtsein erwachte, lag ich auf dem mit Fliesen ausgelegten Boden eines schmalen Ganges. Eine Frau beugte sich über mich und versuchte mich durch heftiges Schütteln mit der linken Hand aus meiner Betäubung zu erwecken, in der rechten hielt sie eine Taschenlampe. Es war jene Frau, deren Warnungen ich törichterweise unbeachtet gelassen hatte.
›Kommen Sie rasch, rasch!‹ rief sie atemlos. ›Sie werden sofort Ihr Verschwinden entdecken. Oh, so beeilen Sie sich doch, es ist keine Sekunde zu verlieren.‹
Diesmal war ihr Rat nicht vergebens. Ich richtete mich taumelnd empor und eilte mit ihr den Gang entlang und dann eine Wendeltreppe hinunter. Die Treppe führte wiederum auf einen breiten Gang. Wir hatten ihn kaum erreicht, als wir schon den Ton von eiligen Schritten und den Klang von zwei Stimmen hörten; die eine sprach dicht in unserer Nähe, die andere antwortete aus der Entfernung. Die Frau stand einen Augenblick völlig fassungslos. Plötzlich stieß sie eine Tür auf; wir standen in einem Schlafzimmer, durch dessen Fenster heller Mondschein flutete.
›Es bleibt kein andrer Weg übrig. Es ist hoch, aber Sie müssen es versuchen.‹
Während sie noch sprach, tauchte am Ende des Ganges ein Licht auf, ich sah die dürre Gestalt des Obersten herbeistürzen, in der Hand hielt er ein großes Beil. Ich flog zum Fenster, öffnete es und schaute hinunter. Wie ruhig und friedlich lag der Garten im Mondlicht! Die Höhe konnte nicht mehr als dreißig Fuß betragen. Ich schwang mich auf das Fensterbrett, aber ich zögerte noch mit dem Sprung. Ich wollte wissen, was zwischen meiner Retterin und meinem Verfolger vorgehen würde. Wenn dieser Schuft sie mißhandelte, war ich unter allen Umständen entschlossen, ihr beizustehen. Im selben Augenblick schon erschien er in der Tür und wollte an ihr vorüberstürzen, sie warf sich ihm jedoch entgegen und klammerte sich fest an ihn.
›Fritz, Fritz!‹ rief sie in englischer Sprache, ›vergiß nicht, was du mir beim letzten Mal geschworen hast. Es sollte nie, nie wieder geschehen. Er wird schweigen, glaub' mir, er wird schweigen.‹
Er versuchte sich mit aller Kraft freizumachen. ›Bist du von Sinnen, Elise?‹ rief er. ›Willst du uns an den Galgen bringen? Laß mich los, sag' ich dir.‹ Er stieß sie beiseite und stürzte mit erhobenem Beil zum Fenster. Ich hatte mich hinausgeschwungen und hielt mich nur noch mit den Händen an der Fensterbank, als der Schlag niedersauste. Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich, ich verlor den Halt und fiel in den Garten hinab.
Ich war bis auf eine heftige Erschütterung unverletzt geblieben, und sobald ich mich einigermaßen erholt hatte, stand ich auf und versuchte, so schnell als möglich hinter einem Gebüsch zu verschwinden; die Gefahr war ja noch nicht vorüber. Aber plötzlich überkam mich eine tödliche Schwäche und Mattigkeit. Meine Hand schmerzte mich furchtbar, und ich bemerkte erst jetzt, daß mein Daumen fehlte und das Blut aus der Wunde strömte. Ich versuchte, mir das Taschentuch umzubinden, dann fühlte ich nur noch ein heftiges Sausen in den Ohren und fiel ohnmächtig im Gebüsch nieder.
Wie lange ich dort gelegen habe, weiß ich nicht. Bis zu meinem Erwachen müssen wohl viele Stunden vergangen sein, denn der Mond war untergegangen, und der Morgen dämmerte herauf. Meine Kleider waren vom Tau durchnäßt, und mein Rockärmel war völlig durchtränkt von Blut. Im Augenblick standen alle Einzelheiten der Nacht vor mir, und ich sprang sofort in die Höhe, weil ich das Gefühl hatte, auch jetzt noch im Bereich meiner Verfolger zu sein. Doch als ich mich umblickte, waren zu meinem Erstaunen weder Haus noch Garten zu entdecken. Ich hatte an der Hecke einer Landstraße gelegen, und gerade vor mir dehnte sich ein längliches Gebäude aus. Beim Näherkommen erkannte ich die Bahnstation, auf der ich gestern angekommen war. Würde mich mein schmerzender Daumen nicht vom Gegenteil überzeugt haben, so hätte ich alle Vorgänge der letzten Nacht nur für einen Traum gehalten. Halb betäubt erkundigte ich mich nach dem Morgenzug und erfuhr, daß in einer knappen Stunde einer nach Reading abgehe. Ich fragte den diensttuenden Stationsbeamten, den ich schon am vorigen Abend gesehen hatte, ob er einen Obersten Stark kenne. Der Name war ihm gänzlich fremd, ebensowenig hatte er gestern einen Wagen bemerkt.
Das nächste Polizeiamt war ungefähr drei Meilen entfernt. Das war für mich zu weit, denn ich fühlte mich krank und schwach. So wollte ich mit einer Anzeige warten, bis ich in die Stadt käme. Kurz nach sechs traf ich ein und ein freundlicher Bahnbeamter führte mich sofort zu Ihnen, um meine Wunde verbinden zu lassen. Es wäre mir lieb, Herr Holmes, wenn ich die ganze Angelegenheit in Ihre Hände legen könnte.«
*
Wir saßen noch eine ganze Weile in tiefem Schweigen, als die Erzählung beendet war. Dann holte Sherlock Holmes einen der riesigen Ordner vom Bücherbrett, in welchem er alle ihm bemerkenswerten Notizen und Zeitungsausschnitte sammelte.
»Diese Anzeige wird Sie wohl interessieren«, sagte er. »Vor ungefähr einem Jahr machte sie die Runde durch alle Zeitungen. Ich will sie Ihnen vorlesen: Verschwunden seit dem 9. des Monats der 26 jährige Ingenieur Jeremias Hayling. Er verließ am angegebenen Tage um zehn Uhr abends seine Wohnung, seitdem fehlt jede Spur von ihm. Er war bekleidet und so weiter. Damals ließ der Oberst vermutlich zum letztenmal seine Maschine untersuchen.«
»Großer Gott!« rief Hatherley aus, »jetzt begreife ich erst, was die Frau mit ihrer Äußerung sagen wollte!«
»Ja, es unterliegt gar keinem Zweifel, daß dieser Oberst ein sehr kaltblütiger, zu allem entschlossener Mensch war und genau so handelt wie Piraten, die auch auf dem geenterten Schiff keinen Überlebenden dulden. Doch jetzt ist keine Minute zu verlieren, und wenn es Ihr Zustand erlaubt, müssen wir sofort nach Scotland Yard und dann weiter nach Eyford.«
Ungefähr drei Stunden später saßen wir im Zug, der uns über Reading nach Eyford bringen sollte. Die Gesellschaft bestand aus Sherlock Holmes, dem Ingenieur, Polizeiinspektor Bradstreet nebst einem sehr einfach gekleideten Manne und mir. Inspektor Bradstreet hatte eine Vermessungskarte der Umgegend auf seinem Sitz ausgebreitet und bemühte sich mit seinem Zirkel einen Kreis zu ziehen, dessen Mittelpunkt Eyford bildete.
»Hier liegt Eyford«, sagte er. »Diese Linie umgibt das Dorf in einem Umkreis von ungefähr zwölf Meilen. Der betreffende Ort muß also in der Nähe dieser Linie sein. Sie sprachen doch von zwölf Meilen, Herr Hatherley?«
»Es war jedenfalls eine Fahrt von einer guten Stunde.«
»Und Sie vermuten, daß Sie während Ihrer Bewußtlosigkeit den ganzen Weg zurückgebracht worden sind?«
»Wahrscheinlich. Ich erinnere mich auch dunkel, aufgehoben und getragen worden zu sein.«
»Ich verstehe nur nicht, was die Leute zu dieser Schonung bewogen haben könnte, als sie Sie ohnmächtig im Garten fanden.«
»Vielleicht ließ sich der Schuft durch die Bitten der Frau besänftigen«, meinte ich.
»Das kommt mir unwahrscheinlich vor«, fiel der Ingenieur ein. »Ich habe niemals ein Gesicht gesehen, das so mit Haß erfüllt war wie das seine.«
»Nun, wir werden bald Klarheit hineinbringen«, sagte Bradstreet. »Ich habe also meinen Kreis gezogen und möchte jetzt nur wissen, in welcher Richtung wir das Gesindel zu suchen haben.«
»Ich glaube, ich kann meinen Finger darauf legen«, äußerte Holmes ruhig.
»Wirklich?« rief der Inspektor. »Sie haben schon eine bestimmte Meinung gefaßt? Na, wir wollen mal sehen, wer mit Ihnen übereinstimmt. Ich behaupte, es ist im Süden, da das Land dort wenig bevölkert ist.«
»Ich bin für Osten«, sagte mein Patient.
»Ich stimme für Norden«, sagte ich, »dort ist das Land flach, und Herr Hatherley meinte, der Wagen wäre niemals bergan gefahren.«
»Und ich bin für Westen«, bemerkte der einfach aussehende Mann. »Da liegen mehrere einsame kleine Dörfer.«
»Hallo!« rief der Inspektor lachend. »Unter uns herrscht ja eine nette Meinungsverschiedenheit. Wir haben den Kompaß zwischen uns geteilt. Auf wessen Seite schlagen Sie sich, Herr Holmes?«
»Sie irren sich alle.«
»Aber das ist doch unmöglich!«
»O doch. Dies ist mein Punkt.« Holmes legte den Finger in die Mitte des Kreises. »Hier werden wir sie finden.«
»Und die Fahrt von zwölf Meilen?« warf Hatherley ein.
»Sechs hin und sechs zurück. Das ist sonnenklar. Sie sagten selbst, das Pferd wäre vollständig frisch gewesen, als Sie einstiegen. Wie wäre das möglich, wenn es eine anstrengende Fahrt von zwölf Meilen hinter sich gehabt hätte?«
»Hm, der Kunstgriff ist nicht unwahrscheinlich«, gab Bradstreet nachdenklich zu. »Jetzt müssen wir uns nur noch über den Zweck dieser Bande klar werden.«
»Darüber kann kaum ein Zweifel herrschen«, sagte Holmes. »Es sind Falschmünzer im großen Maßstabe. Die Maschine brauchten sie, um die Metallmischung zu erzeugen, welche die Stelle des Silbers vertreten sollte.«
»Falschmünzer!« rief Bradstreet aus. »Ja – ich erinnere mich: Wir bekamen schon vor längerer Zeit Wind von einer solchen Sache. Diese gefährliche Gesellschaft hat zu Tausenden halbe Kronen in Umlauf gesetzt, und es gelang uns nicht, sie weiter als bis Reading zu verfolgen. Dort hatten sie ihre Spur in einer Weise verwischt, die uns zeigte, daß wir es mit sehr geriebenen, alten Füchsen zu tun hatten. Na, jetzt werden sie uns wohl nicht mehr entwischen.«
Aber der Inspektor irrte sich. Die Verbrecher sollten der Gerechtigkeit nicht überliefert werden. Als wir in den Bahnhof einfuhren, sahen wir ganz in der Nähe eine ungeheure Rauchwolke hinter einer kleinen Baumgruppe aufsteigen, wie eine riesige Straußfeder hing sie über der Landschaft.
»Brennt hier ein Haus?« fragte Bradstreet, nachdem wir den Zug verlassen hatten.
»Jawohl«, antwortete der Stationsvorsteher.
»Wann brach das Feuer aus?«
»Wahrscheinlich schon in der Nacht, doch hat es scheints jetzt weiter um sich gegriffen, die ganze Gegend ist in Rauch gehüllt.«
»Wem gehört die Besitzung?«
»Doktor Becher.«
»Bitte, sagen Sie mir«, fiel der Ingenieur ein, »ist dieser Doktor Becher ein Deutscher, sehr hager, mit langer, scharfer Nase?«
Der Stationsvorsteher lachte herzlich. »Nein, mein Herr, Doktor Becher ist ein Engländer, und Sie werden wahrscheinlich im ganzen Kirchspiel nicht leicht einen wohlbeleibteren Menschen finden. Doch lebt ein Herr bei ihm, ich glaube einer seiner Patienten, der erinnerte eher an die sieben mageren Jahre.«
Er hatte kaum ausgesprochen, so liefen wir auch schon eilig der Richtung des Feuers zu. Wir hatten einen sanft ansteigenden Hügel überschritten und sahen jetzt ein großes, weißes Gebäude vor uns liegen. Es war in ein Flammenmeer eingehüllt, aus jeder Ritze und jeder Fensteröffnung brach die rote Lohe.
Vergeblich bemühte sich die Feuerwehr, mit drei Spritzen des entfesselten Elementes Herr zu werden.
»Hier ist es!« rief Hatherley in fieberhafter Erregung. »Dort ist der Kiesweg, und dort unter dem Gebüsch hab' ich gelegen. Aus dem zweiten Fenster sprang ich heraus.«
»Nun«, meinte Holmes, »wenigstens sind Sie an ihnen gerächt. Die hölzernen Wände im Maschinenraum sind sicher durch das Zerbrechen Ihrer Lampe in Brand geraten, und in der Aufregung hat man das wohl nicht sofort bemerkt. Bitte, achten Sie jetzt scharf darauf, ob Sie unter der Zuschauermenge die Frau oder einen der beiden Männer entdecken können. Es ist freilich eher anzunehmen, daß zwischen ihnen und uns schon ein paar hundert Meilen liegen.« Holmes Befürchtung war nur zu sehr begründet. Die drei waren und blieben verschwunden bis heute.
Ein Bauer erzählte, er habe an jenem Morgen in aller Frühe einen Wagen gesehen mit mehreren Personen und großen Kisten beladen, der eilig in der Richtung nach Reading gefahren wäre. Das blieb auch die einzige Spur von den Flüchtlingen; selbst Holmes gelang es nicht, das Rätsel weiter zu lösen.
Die Feuerwehrleute waren nicht wenig über die seltsamen Einrichtungen im Innern des Hauses erstaunt und ihre Verwunderung erreichte den Höhepunkt, als sie auf einer Fensterbank einen abgehackten Daumen fanden. Gegen Abend war endlich das Feuer gelöscht. Das Dach war jedoch schon eingestürzt und das ganze Gebäude so vollständig zerstört, daß nur einige verbogene Zylinder und eiserne Röhren an die Maschine erinnerten, die so viel Unheil verursacht hatte. In einem kleinen, zu dem Anwesen gehörenden Haus entdeckte man große Mengen Nickel und Zinn, dagegen wurde nicht ein einziger Prägestock gefunden, das machte uns die Mitnahme der schon erwähnten großen Kisten erklärlich.
Auf welche Weise unser Ingenieur aus dem Garten fortgeschafft worden war, wäre wohl für ewig ein Geheimnis geblieben, wenn uns nicht die weiche Gartenerde eine sehr einfache Geschichte erzählt hätte. Zwei Personen mußten ihn getragen haben, die eine mit besonders kleinen Füßen, während die andere Fußspur auffallend groß war. Wahrscheinlich hatte der Engländer, weniger rücksichtslos und grausam als sein Gefährte, der Frau geholfen, den bewußtlosen Mann aus der Gefahr zu bringen.
»Ja«, sagte unser Ingenieur kläglich, als wir wieder im Zuge saßen, »das war wirklich ein einträgliches Geschäft. Meinen Daumen hab' ich verloren, die Aussicht auf meine Fünfzigpfundnote ist ebenfalls fort, und was hab' ich dafür eingetauscht?«
»Erfahrung«, sagte Holmes lachend, »und die kann Ihnen indirekt wieder von Nutzen sein. Sie brauchen die Geschichte nur mit fließenden Worten vorzutragen, um bis zum Ende Ihrer Tage den Ruf eines großartigen Gesellschafters zu genießen.«
Holmes lachte, als er diesen letzten Satz gelesen hatte. »Nun, das wird er wohl auch befolgt haben, der gute Herr Hatherley«, sagte er vor sich hin und griff nach dem nächsten Blatt. »Was wird wohl Freund Watsons nächstes Thema sein? Ah – sieh an:
{!§§!}Die verschwundene Braut
Namen
{" John H. Watson "} John H Watson
{" Sherlock Holmes "} Sherlock Holmes
{" Lord Robert St. Simon "} Lord Robert St. Simon
{" Lord Backwater "} Lord Backwater
{" Lady & Lord Balmoral "} Lady and Lord Balmoral
{" Inspektor Lestrade "} Inspektor Lestrade
{" Hatty Doran "} Hatty Doran
{" Aloysius Doran "} Aloysius Doran
{" Alice "} Alice
{" Lord Eustace St. Simon "} Lord Eustace St. Simon
{" Lady Clara St. Simon "} Lady Clara St. Simon
{" Lady Alicia Whittington "} Lady Alicia Whittington
{" Flora Millar "} Flora Millar
{" Francis Hay Moulton "} Francis Hay Moulton
{" Alexander Holder "} Alexander Holder
Ortschaften
{" Baker Street "} Baker Street
{" Grosvenor Square "} Grosvenor Square
{" Westbury House "} Westbury House
{" Hanover Square "} Hanover Square
{" St. George "} St. George
{" Hyde Park "} Hyde Park
{" Lancaster Gate "} Lancaster Gate
{" Gordon Square "} Gordon Square
{" Petersfield "} Petersfield
{" Birchmoor "} Birchmoor
{" McQuire's Camp "} McQuires Camp
{" Northumberland "} Northumberland
Eines Tages wurde während seiner Abwesenheit ein Brief für Sherlock Holmes abgegeben. Ich hatte den ganzen Tag das Haus nicht verlassen, denn das Wetter war plötzlich regnerisch geworden; ein scharfer Herbstwind wehte, und die Flintenkugel in meinem Bein, die ich als Andenken aus dem afghanischen Feldzug heimgebracht habe, quälte mich mit empörender Hartnäckigkeit. In einem bequemen Stuhl sitzend, hatte ich die Beine auf einem zweiten Stuhl ausgestreckt und mich in einen ganzen Berg von Zeitungen vergraben, bis ich zuletzt die Tagesneuigkeiten satt bekam und die Blätter sämtlich beiseite schob. Während ich nun so in verdrossener Stimmung dalag, betrachtete ich mit träger Neugier das mächtige Wappen und Monogramm, das auf dem Umschlag des vor mir liegenden Briefes prangte, und fragte mich, wer wohl der adlige Briefschreiber sein möchte.
»Da liegt ein höchst vornehmer Brief für dich«, rief ich meinem Freund bei seinem Eintritt entgegen. »Deine Briefe heute früh, von einem Fischhändler und einem Zolleinnehmer, waren weniger vornehm.«
»Ja, mein Briefwechsel besitzt entschieden den Reiz der Abwechslung«, erwiderte er lächelnd, »und je weniger vornehm, desto interessanter sind sie in der Regel. Das da sieht gerade aus wie eine jener unwillkommenen gesellschaftlichen Einladungen, die einen entweder zu einer Marter oder zu einer Lüge verdammen.« Er erbrach das Siegel und überflog den Inhalt. »Warte einmal, das kann am Ende etwas ganz Interessantes geben!« rief er nun plötzlich.
»Also nichts Gesellschaftliches?«
»Nein, durchaus geschäftlich.«
»Und von wem?«
»Von einer der vornehmsten Personen in ganz England.«